Lügde:Die Spur, der niemand folgte

Recherchen im Skandal um den Missbrauch zeigen: Der Hauptangeklagte hätte viel früher gestoppt werden können.

Von Britta von der Heide, Jana Stegemann und Ralf Wiegand

Kommission macht Vorschläge für besseren Kinderschutz

Windspiele an der mittlerweile abgerissenen Campinghütte auf dem Campingplatz Eichwald erinnern an die Taten des Hauptangeklagten.

(Foto: dpa)

Der Missbrauchs-Skandal auf dem Campingplatz von Lügde gilt als bisher schwerster Fall von sexueller Gewalt gegen Kinder in der Geschichte Nordrhein-Westfalens, der Prozess gegen Andreas V. und zwei Mitangeklagte beginnt an diesem Donnerstag vor dem Landgericht Detmold. Von Anfang an schwebt über der Aufklärung der eigentlichen Tat - dem Missbrauch von mindestens 33 Kindern durch mehrere Männer über einen Zeitraum von zwei Jahrzehnten - auch die Frage: Hätten die Behörden das verhindern können?

Nach Recherchen von Süddeutscher Zeitung, NDR und WDR gab es erste konkrete Hinweise auf den mutmaßlichen Haupttäter Andreas V. schon 1998. Sie wurden aber offenbar nicht konsequent verfolgt. Vielen der Kinder, die der Mann missbraucht haben soll, hätte ihr Leid womöglich erspart werden können.

Demnach hatte ein damals vierjähriges Mädchen, das sich 1998 mit seiner Mutter auf dem Campingplatz Eichwald aufhielt, wie viele andere Kinder auch mit dem Dauercamper Andreas V. häufiger Ausflüge gemacht und bei ihm gespielt. Der Mann galt als sehr beliebt bei Campingplatzbewohnern, Ferienkindern und Kindern aus der Gegend.

Die Mutter fragt nach - und lässt sich abwimmeln

Nach einem dieser Tage habe das Mädchen seiner Mutter gesagt: "Mama, Penis lecken schmeckt nicht." Die Frau habe ihrer Tochter daraufhin verboten, weiter zur Camping-Parzelle von Andreas V. zu gehen und auch den Platzbetreiber mit dem Vorgang konfrontiert. Der Mann habe ihr zu verstehen gegeben, dass er sich so etwas nicht vorstellen könne: Für "Addy", wie Andreas V. auf der Anlage genannt wurde, würde er seine Hand ins Feuer legen. Heute sagt der Campingplatzbetreiber, sich an einen solchen Vorgang nicht erinnern zu können. Der Fall geriet offenbar zunächst in Vergessenheit.

Zwei Jahre später jedoch tauchten die Geschehnisse in einem anderen Zusammenhang wieder auf - und wurden aktenkundig. Die Mutter des Mädchens erstattete im Jahr 2000 Anzeige gegen ihren Ehemann, den sie verdächtigte, die Tochter zu missbrauchen. In dieser handschriftlichen Anzeige beschrieb sie aber auch die zurückliegenden Ereignisse um Andreas V., den sie nur als "Addy" kannte, und ihre Tochter. Sie nannte den Spitznamen, lokalisierte den Campingplatz in Lügde-Elbrinxen, schilderte weitere Umstände und zitierte ihre Tochter so, wie sie es selbst von ihr damals gehört haben will. Der damalige Staatsanwalt verfolgte aber offenbar nur den Vorwurf des Missbrauchs durch den Vater - die Spur zu "Addy" vom Campingplatz Lügde blieb liegen.

Ulrich Bremer von der Staatsanwaltschaft Köln erklärt das heute damit, dass die Vermutungen der Mutter in Richtung des unbekannten Mannes vom Campingplatz zu "vage" gewesen seien, um einen Anfangsverdacht zu begründen. Für den renommierten Strafverteidiger Johann Schwenn ist das eine klare Fehleinschätzung: "Hier hat ein Kind einen eindeutig strafbaren Sachverhalt behauptet, hat einen möglichen Täter genannt - und damit hatte die Staatsanwaltschaft die Verpflichtung, die Ermittlungen aufzunehmen und auch durchzuführen."

Ob je ermittelt wurde, verschweigt die Staatsanwaltschaft

Wiederum zwei Jahre später, im Jahr 2002, bekräftigte auch der von seiner Ehefrau verdächtigte Vater des Mädchens, dass nicht er, sondern Andreas V. für den Missbrauch auf dem Campingplatz verantwortlich sei. Diesmal wurde zwar ein offizielles Verfahren eingeleitet und an die zuständige Staatsanwaltschaft Detmold weitergegeben - doch ob überhaupt je ermittelt wurde, ob und wann das Verfahren womöglich eingestellt wurde, will die Staatsanwaltschaft auf Anfrage nicht sagen.

Der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul (CDU) sagte auf Anfrage von SZ, NDR und WDR: "Ich bin da fassungslos. Was aus diesen weiteren Hinweisen in der Vergangenheit geworden ist, konnten wir bisher noch nicht aufklären. Da kümmert sich jetzt die Staatsanwaltschaft drum." Wegen des mutmaßlichen Behördenversagens im Fall Lügde - betroffen sind Staatsanwaltschaften, Polizei und Jugendämter - hat der Düsseldorfer Landtag am Mittwoch einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss beschlossen.

Neben Andreas V. sind vor dem Landgericht Detmold zwei weitere Männer angeklagt, in mehr als 450 Einzeltaten sexuelle Gewalt gegen Kinder ausgeübt zu haben. Bisher hat sich nur einer teilweise eingelassen, die anderen schweigen.

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