Duisburg:So wird die Aufklärung des Loveparade-Unglücks gefährdet

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Auf dem Weg zum Loveparade-Gelände in Duisburg starben 21 Menschen. Die Umrisse der Opfer sind nach dem Unglück auf dem Boden zu sehen.

(Foto: REUTERS)
  • Der Staatsanwaltschaft Duisburg liegt zum Unglück bei der Loveparade in Duisburg ein Gutachten des englischen Professors Keith Still vor - allerdings bruchstückhaft und voller Tippfehler.
  • Fast fünf Jahre nach dem Unglück mit 21 Toten bleiben viele Fragen ungeklärt.
  • Seit mehr als einem Jahr prüft das Landgericht Duisburg, ob die Anklage der Staatsanwaltschaft gegen zehn Beschuldigte überhaupt zugelassen werden kann.
  • In zwei Monaten sind mögliche Vergehen der Polizei verjährt.

Von Bernd Dörries, Düsseldorf

Am 9. Dezember 2011 ging bei der Staatsanwaltschaft Duisburg eine E-Mail ein, welche die Ermittler ins Grübeln brachte. "Final Report" stand über dem etwa 20 Seiten langen Dokument, in dem es augenscheinlich um die Loveparade ging. Sollte es sich tatsächlich um das Gutachten des englischen Professors Keith Still von der Buckinghamshire New University handeln, auf das die Ermittler so sehnlichst warteten? Das Papier war eher stichwortartig formuliert, voller Tippfehler überdies, und nicht einmal vom beauftragten Gutachter selbst verschickt oder unterschrieben worden. Sah so ein Gutachten aus, mit dem man eines der größten Verfahren in der deutschen Justizgeschichte bestreiten und gar gewinnen könnte?

Ein Dokument, das Staatsanwälte schockiert

Die Staatsanwälte hakten also beim Gutachter nach, ob das tatsächlich seine Expertise sei. Ja, ja, antwortete Still und schickte noch ein paar Blätter aus einer Powerpoint-Präsentation hinterher. Die Duisburger Staatsanwälte waren ratlos bis schockiert. Sie baten den Gutachter in 41 Fragen um Präzisierung. Teilweise sind sie bis heute unbeantwortet, fast fünf Jahre nach der Loveparade mit 21 Toten.

Nach der Katastrophe im Juli 2010 war schnell klar, dass ein Gutachter eine entscheidende Rolle spielen würde in dem Verfahren, zu komplex waren die Sachverhalte: Hätte das Ganze genehmigt werden dürfen? Wie kam es zu dem Gedränge der Menschen, in dem so viele erdrückt wurden? Das sind die entscheidenden Fragen, allein: Das Gutachten beantwortet sie nicht. Seit vier Jahren arbeitet Still an einem "Final Report", der aber nie so wirklich fertig wird. Immer neue Schlampereien tauchen auf, immer neue Nachfragen werden gestellt. Seit mehr als einem Jahr prüft das Landgericht Duisburg, ob die Anklage der Staatsanwaltschaft gegen zehn Beschuldigte - sechs von der Stadt und vier vom Veranstalter Lopavent - überhaupt zugelassen werden kann.

Machte die Polizei Fehler?

Im Februar dieses Jahres hat das Gericht noch einmal 75 Fragen an den Gutachter geschickt. Die Richter wollten wissen, wie viele Menschen denn nun tatsächlich auf dem Gelände waren. Ob die Ketten der Polizei auch mit zum Unglück geführt haben? Alles Fragen, die der Gutachter nicht beantworten konnte. "Herr Still kann noch so viel Expertise auf dem Feld der Massenveranstaltungen mitbringen, für die Erstellung eines Gutachtens für ein deutsches Strafverfahren ist er nicht geeignet", sagt Rechtsanwalt Björn Gercke der Süddeutschen Zeitung.

Er vertritt einen Beschäftigten des Veranstalters, vom Gericht fordert er die Einsetzung eines neuen Gutachters. In einem Schreiben an das Gericht listet er die Mängel der Expertise auf: Dabei geht es vor allem um die Beurteilung der Frage, ob die Polizei während der Veranstaltung auch Fehler gemacht hat. Unter den Angeklagten befindet sich kein Polizist, obwohl nach der Katastrophe viele Versäumnisse deutlich wurden - so sah es anfangs jedenfalls der Gutachter, die Polizeiketten hätten wesentlich zur Bildung der tödlichen Menschenmenge beigetragen. "Position am schmalsten Punkt und in den Tunneln zu beziehen war ein Fehler", schreibt Still. Ein Jahr später ist diese Einschätzung plötzlich verschwunden. Still schreibt nun: "Wir wollen nicht über die Gründe spekulieren, weshalb gerade diese Positionen für die Polizeikordon gewählt wurden."

Gerade in diesem Punkt hätten sich vor allem die Hinterbliebenen, aber auch die bisher Beschuldigten Klarheit gewünscht. "Es ist nicht selbstverständlich, dass sich die Opfer und die der Tat Beschuldigten auf einer Seite sehen", schreibt Rechtsanwalt Jürgen Wessing in einem offenen Brief. Wessing vertritt einen Repräsentanten der Stadt. "Dass die Verantwortung der Polizei im Laufe des Verfahrens einfach wegdiffundierte, vermögen beide nicht zu verstehen." Im Sommer sind mögliche Vergehen der Polizei verjährt.

Es bleiben nur noch zwei Monate Zeit

Für die Angehörigen wird es am fünften Jahrestag des Unglücks noch immer kaum Aussichten auf eine baldige Aufklärung der Sache geben. Ob in diesem Jahr überhaupt ein Prozess beginnen kann, ist fraglich - die Mängel im Gutachten scheinen nur schwer korrigierbar zu sein, der Gutachter widerspricht sich mehrfach. Einmal gibt er die schmalste Stelle im Zugangsbereich mit 5,90 Metern an, ein anderes Mal einen Meter länger. Die verschiedenen Maße würden zu völlig unterschiedlichen Berechnungen führen, wie viele Besucher gefahrlos auf das Gelände gelangen konnten.

Zwei Monate hat der Gutachter Still nun Zeit, noch ausstehende Fragen zu beantworten. Die Staatsanwaltschaft hat schon länger aufgegeben, immer wieder dieselben Fragen zu stellen. Und auch Still hat wohl selbst wenig Hoffnung: Einmal hieß es gar von seiner Universität, man werde die "Untiefen" des deutschen Rechtssystems wohl nicht ohne Hilfe umschiffen können. Das war die bisher wohl eindeutigste Aussage des Gutachters.

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