Loveparade-Unglück:"Wir wollten nicht verbittert werden"

Nacht der tausend Lichter

In der Nähe dieser Treppe verloren am 24. Juli vor zehn Jahren 21 Menschen ihr Leben. Mehr als 600 Feiernde wurden verletzt. Der Jahrestag wird wegen der Corona-Pandemie nur in kleinem Rahmen begangen.

(Foto: Roland Weihrauch/dpa)

Vor zehn Jahren verlor Gabi Müller ihren Sohn Christian bei der Loveparade in Duisburg. Sie erzählt von ihrem Kampf um Gerechtigkeit, von der Enttäuschung über Justiz und Politik - und woraus sie Kraft geschöpft hat.

Interview von Jana Stegemann

Am 24. Juli 2010 starben im Gedränge der Loveparade in Duisburg 21 Menschen, unter ihnen Christian, 25, der Sohn von Gabi Müller. Seit zehn Jahren kämpft seine Mutter für die Aufarbeitung der Katastrophe. 2016 startete sie eine Petition, die maßgeblich dazu beitrug, dass überhaupt ein Prozess am Landgericht Duisburg stattfand. 2019 starb ihr Mann Uwe an Krebs, einen Tag nach dem neunten Jahrestag der Katastrophe. Die 62-jährige Friseurin aus Hamm ist eine herzliche, resolute Frau, die trotz allem viel lacht und gerne erzählt. Das Gespräch mit ihr fand kurz vor dem zehnten Jahrestag des Loveparade-Unglücks statt.

SZ: Frau Müller, wie geht es Ihnen heute?

Gabi Müller: Nicht gut. Ich empfinde diesen Jahrestag noch viel schlimmer als sonst. Es kommt gerade so viel zusammen: das Ende des Prozesses, der erste Todestag meines Mannes, Christians zehnter Todestag. Dann noch die Aussagen von Herrn Sauerland gestern.

Interview am Morgen

Diese Interview-Reihe widmet sich aktuellen Themen und erscheint von Montag bis Freitag spätestens um 7.30 Uhr auf SZ.de. Alle Interviews hier.

Duisburgs früherer Oberbürgermeister Adolf Sauerland hat das erste Mal seit seiner Abwahl vor acht Jahren ein Interview gegeben. Er sagte der Rheinischen Post, er sehe auch rückblickend "keinen Anlass für einen Rücktritt aus politischer Verantwortung". Er habe keine Schuld an dem Unglück. Und er habe die Loveparade auch nie gewollt.

Ich habe Herrn Sauerland auch schon beim Prozess erlebt, wo er als Zeuge ausgesagt hat. Da hat er sich ja auch als Opfer dargestellt. Er hat nichts dazugelernt und er wird auch nichts dazulernen. Aber trotzdem sind solche Aussagen wieder wie ein Schlag ins Gesicht.

Coronabedingt findet die Gedenkveranstaltung zum zehnten Jahrestag nur in kleinem Rahmen statt. Viele Eltern und Angehörige der Opfer leben im Ausland, können nicht anreisen. Und auch künftig will die Stadt Duisburg den Jahrestag kleiner begehen. Wie finden Sie das?

Ich hätte kein Problem damit, wenn es kleiner wird. So ist es vielleicht friedlicher. 2017 waren die Freunde meines Sohnes zum letzten Mal dabei, die waren schockiert, dass alles so öffentlich war und so viel Presse vor Ort. Damit will ich nicht die Medien kritisieren, die waren ja offiziell eingeladen. Aber ich habe vorher Bedenken bei den Organisatoren angemeldet. Dann hieß es später: Nach Rücksprache mit den Angehörigen haben wir das so und so gemacht. Ich frage mich: Mit welchen Angehörigen haben die denn gesprochen? Mit mir jedenfalls nicht.

Wie verstehen Sie sich mit den Angehörigen der anderen Opfer?

Das ist eine Seelenverwandtschaft. Man braucht sich nicht zu erklären, jeder weiß auch so, wie es dem anderen geht. Das verbindet uns wohl für immer. Paco und Nuria Zapater aus Spanien, die Eltern von Clara, kommen zum Jahrestag, das freut mich sehr. Wir waren immer die Kämpfer, wenn man so will. Die beiden waren auch sehr traurig, dass sie zum Abschluss des Prozesses nicht da sein konnten. Aber sie haben mich aus der Ferne moralisch unterstützt.

Loveparade-Prozess

Beim Prozessauftakt im Dezember 2017 gaben sie sich gegenseitig Halt: Gabi Müller (Mitte) mit Paco und Nuria Zapater, deren Tochter Clara bei der Loveparade starb.

(Foto: Roland Weihrauch/dpa)

Mit dem Vater von Clara Zapater, die auf der Loveparade das Ende ihres Erasmus-Studiums in Münster feiern wollte, haben Sie die Petition für die Wiederaufnahme des Verfahrens gestartet, nachdem das Landgericht Duisburg die erste Anklage abgelehnt hatte. Es unterschrieben in kurzer Zeit mehr als 360.000 Menschen. Ohne Sie hätte die 6. Strafkammer vielleicht nie getagt, hätte es einen der aufwendigsten Prozesse in der Geschichte Deutschlands nie gegeben.

Die Petition hat ein kleines Stückchen dazu beigetragen, dass es zum Prozess gekommen ist, so sehe ich das. Eine Freundin brachte mich auf die Idee, ich hatte mit so was ja keine Erfahrung. Erst wollte ich es nicht, weil ich auch Sorge hatte, wie man das alles bewältigen soll, aber dann haben mein Mann und ich gesagt: Was haben wir denn noch zu verlieren?

Zu Prozessbeginn haben Sie gesagt: "Strafe ist mir nicht das Wichtigste."

Am allerwichtigsten war für uns die Aufklärung. Wie ist alles abgelaufen, wer trägt die Verantwortung, wer hat Schuld? Leider sind die Fragen für uns nicht richtig beantwortet worden. Schon als der Prozess anfing, hatten wir ein ungutes Gefühl, immer die Verjährungsfrist im Blick. Wir wussten, es sind nur knapp zweieinhalb Jahre Zeit. Und verhandelt wurde ja umgerechnet nur eineinhalb Tage pro Woche.

Dann kam der Tag, an dem der Prozess eingestellt wurde. Sie saßen im Gerichtssaal.

Ich hätte nicht gedacht, dass es mich doch so treffen würde. Als diese Endgültigkeit da war, war es wieder, als würde mir der Boden unter den Füßen weggezogen. Man ist enttäuscht und wütend, dass von den Verantwortlichen niemand auf der Anklagebank gesessen hat. Wenn sich die Anklage nicht nur auf die Planung und Genehmigung gestützt hätte, sondern auch noch den Tag der Katastrophe miteinbezogen hätte: Ich bin davon überzeugt, dann hätten wir ein anderes Endergebnis.

Haben Sie noch Vertrauen in die deutsche Justiz?

Das Zugunglück von Eschede, der Einsturz des Kölner Stadtarchivs, der Brand am Frankfurter Flughafen - es ist noch nicht eine Großkatastrophe strafrechtlich aufgearbeitet worden. Daran muss sich etwas ändern. Solange unser Strafrecht aber nur die individuelle Schuld kennt, wird das wohl so bleiben. Mein Mann hat so sehr an die Justiz geglaubt, das war ihm eine Stütze. Nach dem dritten Jahrestag, als die Ermittlungen immer noch liefen, habe ich gesagt: Uwe, hier stimmt was nicht. Aber mein Mann hat immer gesagt: Wir leben hier in Deutschland, wir sind doch nicht in einer Bananenrepublik. Die Justiz wird es klären, dafür ist sie da. 2015 hat er den Glauben an die Justiz verloren - als er die Anklageschrift gelesen hatte.

Die SPD-Politikerin Hannelore Kraft hat vor Kurzem im NRW-Landtag an die Opfer erinnert und bedauert, dass die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen wurden. Wie haben Sie den Auftritt der früheren NRW-Ministerpräsidentin empfunden?

Ich glaube ihren Worten nicht mehr. Ich hatte am Anfang riesiges Vertrauen in die Politik, besonders in Frau Kraft nach ihrer Rede auf der Trauerfeier. Ich habe daran geglaubt, dass das Unglück auch politisch aufgearbeitet wird. Die Veranstaltung war ja von Anfang an ein Politikum. Wenn das Ruhrgebiet 2010 nicht Kulturhauptstadt Europas gewesen wäre, hätte es die Loveparade dort nie gegeben. Aber die Politik, damals unter CDU-Führung, hat sich sehr stark dafür gemacht. Heute frage ich mich: Wieso gab es eigentlich nie einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss? Das sind Sachen, die werden einem erst später bewusst. Am Anfang ist man ja froh, wenn man einen Tag nach dem anderen geregelt bekommt.

Wie haben Sie die vergangenen zehn Jahre durchgestanden? Was hat Ihnen Kraft gegeben?

Ich weiß manchmal gar nicht, wo die zehn Jahre hin sind und woher ich meine Kraft nehme. Dass Christian Gerechtigkeit widerfährt, hat mich und meinen Mann immer angetrieben. Das war unser Ziel. Kurz nach seinem Tod habe ich dafür gebetet, dass ich immer die Kraft haben werde, gerecht zu bleiben - vor allem gegenüber Menschen, die für das Unglück nichts können. Wir wollten nicht verbittert werden und andere ungerecht behandeln. Ich glaube, das ist uns auch gelungen. Ich bin froh und dankbar, dass ich mich weiterentwickelt habe und nicht nur in Wut stecken geblieben bin. Klar bin ich ab und zu noch wütend auf bestimmte Leute, aber ich denke, das gehört dazu. Ich glaube, Christian wäre stolz auf mich.

Zur SZ-Startseite

SZ PlusDoku zum Loveparade-Unglück
:Irgendjemand muss doch schuld sein

21 junge Menschen sind am 24. Juli 2010 bei der Loveparade ums Leben gekommen. Es folgten: Eine kastrierte Anklage, wenig Aufklärung und kein Urteil. Musste das so sein?

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: