Süddeutsche Zeitung

Erfinder der Kassette ist tot:Bandsalat für alle

Der Niederländer Lou Ottens stellte 1963 auf der Funkausstellung ein klobiges Ding vor, in das sich ein Stück Plastik mit zwei kleinen Drehrädchen stecken ließ - und demokratisierte so den Musikgenuss. Ein Nachruf auf den Erfinder der Kassette.

Von Willi Winkler

Erst vor drei Tagen hat sich jemand auf Youtube daran erinnert, wie er auf dem Weg heim von der Schule im Bus immer "Mississippi" hörte. Der Busfahrer hatte einen Kassettenrekorder und spielte, nicht ohne vorher die Bande hinten um Erlaubnis zu fragen, das einzige Lied, das er aufgenommen hatte, die Schaufelraddampferballade der niederländischen Mädchengruppe Pussycat und ihre Wehklage, dass es mit der guten alten Countrymusik zu Ende gehe. Der niederländische Pop hatte in den frühen Siebzigern kurz Weltniveau: Das brutalistische Schlagzeug in "Radar Love", Mariska Veres von den Shocking Blue als Venus, und die tatsächlich katzenäugige Toni Willé mit der Zahnlücke und der unendlichen Schwermut, mit der sie einen den Mississippi hinuntertreiben ließ. Genau dafür hatte Lou Ottens die Kassette erfunden.

Ottens, Jahrgang 1926, hatte sich als Jugendlicher selber ein Gerät gebastelt, mit dem er Radio Oranje hören konnte, das holländische Programm der BBC. Die Störsignale der deutschen Besatzer umging er mit einer Richtantenne. Er studierte Maschinenbau und ging 1952 zu Philips in die Entwicklungsabteilung. 1963 stellte er auf der Berliner Funkausstellung zusammen mit Johannes Schoenmakers ein unsagbar hässliches, selten klobiges Gerät vor, in das sich ein Stück Plastik mit zwei kleinen Drehrädchen stecken ließ. Aus einem ebenso primitiven Lautsprecher kamen unzweifelhaft Geräusche, die als Musik gelten wollten. Die beiden hatten das Ding im belgischen Hasselt entwickelt und keine Ahnung, was sie da in die Welt brachten und welchen Bandsalat ihre Erfindung in den nächsten Jahrzehnten anrichten sollte.

Ottens demokratisierte den Musikgenuss, mit einem Pressen auf die Schalttaste war sie überall zu Hause und eben nicht nur in einem Club oder einem Konzertsaal. Die Bestimmung der Popmusik ist doch nicht der Feinsinn, sondern dass sie schön laut ist. Mit der Kassette wurde jeder sein eigener Produzent, piratete alles aus dem Radio, sammelte, tauschte unentwegt und musste zur Enttäuschung mit der ersten Liebe auch noch erleben, dass sie seinen hochartifiziellen Musikgeschmack nicht teilte, den er ihr auf einem Demoband als voreilige Morgengabe überreicht hatte. Der Ton war anfangs gleichmäßig schlecht, wenn die Kassette im Jugendzimmer mit Suzie Quatro gegen die Eltern draußen ankämpfte, die Fahrt auf der Route 66 mit Chuck Berry begleitete oder im Bus von Sanliurfa nach Cizre mit türkischem oder schon arabischem Jammern die Botschaft verstärkte, die der Fahrer vorn gestickt unter Sonnenschutzblende hängen hatte: Allah korusun, mit Allah wird's schon irgendwie gehen.

Lou Ottens hatte dieses Wunder der ubiquitären Musik möglich gemacht. Philips blieb er bis zum Ende seines Arbeitslebens treu und widmete sich als unermüdlicher Bastler auch noch der CD. Sein einziger Kummer war der Walkman, die konsequente Weiterentwicklung seiner Erfindung, aber eben von Sony und nicht von Philips. Am vergangenen Samstag ist Lou Ottens mit 94 Jahren im niederländischen Duizel gestorben. Draußen im Baum hängt ein Stück Bandsalat und winkt seinem Erfinder im Frühlingswind nach.

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