Süddeutsche Zeitung

Stochastik:Der Mensch misstraut dem Zufall nicht zufällig

Die Panne bei der letzten Lottoziehung ist eine Wohltat für die Psyche. Der Mensch nämlich tut sich schwer damit, das scheinbar Unwahrscheinliche zu begreifen.

Von Patrick Illinger

Plötzlich geschah das Ungeheuerliche: Da landete tatsächlich die Kugel mit der Ziffer 1 auf der Kugel mit der 25. Die Zahlen waren nicht wichtig, sondern die Tatsache, dass eine Kugel auf der anderen landete - und nicht, wie es sich gehört, daneben. Generationen von Fernsehzuschauern sind es gewohnt, dass am Samstagabend weiße Bälle aus einem rotierenden Plexiglasballon in Becher fallen und am Ende irgendjemand in Deutschland Millionär ist. Das ging nun schief.

Das brachte nicht nur die Moderatorin der TV-Ziehung aus dem Konzept, es ist auch ein Vorfall mit Symbolik. Die im Digitalzeitalter im trotzigen Retrolook rotierende Lottomaschine soll schließlich vor allem eines garantieren: den Zufall in Reinstform. Indem alles durchschaubar ist, das Rotieren der Kugeln, das Fallen in die Becher, soll ein urmenschlicher Trieb ausgeblendet werden: die Vermutung des Nichtzufälligen im Zufall.

Würden Lottozahlen per Computer erzeugt, wäre Verschwörungstheorien Tür und Tor geöffnet, zumal wenn etwas passiert wie 2009 in Bulgarien und 2010 in Israel: dass kurz nacheinander die gleichen Zahlen gezogen werden. Nun hat ausgerechnet die perfekte Zufallsmaschine einen Schluckauf bekommen. Der menschlichen Psyche kommt die Panne zupass. Für uns sind Zufall und Wahrscheinlichkeit ein viel zu sperriges Konzept. Fliegen ist sicherer als Autofahren? Das fühlt sich für die meisten ganz anders an.

"Wenn es um Zufälle geht, verfallen wir in Denkmuster von Neandertalern", sagt der Londoner Statistikprofessor David Hand. Menschen lieben Kausalzusammenhänge - die Krake Paul etwa, die Fußballergebnisse vorhersagte. Das Gesetz der großen Zahlen, so nennen es Statistiker, wenn unwahrscheinliche Dinge doch passieren, weil die Menge der Ereignisse groß genug ist. Tatsächlich genügt es, 23 Menschen in einem Raum zu versammeln, damit die Wahrscheinlichkeit über 50 Prozent steigt, dass zwei am gleichen Tag Geburtstag haben. An derlei Konzepten haben nicht nur Mathe-Abiturienten zu knabbern. Das Konzept vom Zufall fällt jedem schwer, zum Beispiel, wenn man hört, welche die am seltensten gezogene Lottozahl ist: Es ist die 13.

Wer kann nicht berichten von einer Begegnung mit einem Bekannten, an den man kurz zuvor dachte, oder an einem ungewöhnlichen Ort, so wie Henry Morton Stanley und David Livingstone, die 1871 im abgelegensten Winkel Afrikas aufeinander trafen. "Es gibt keine Zufälle, sondern nur Begegnungen", schrieb der französische Dichter Paul Éluard. Niemand zählt, wie oft man Bekannte nicht trifft, es brächte auch nichts: Nackte Zahlen werden der Emotionalität ungewöhnlicher Ereignisse nicht gerecht. Nicht, wenn sich Brad Pitt beim Filmdreh als Achilles-Darsteller die Achillessehne reißt, und nicht, wenn die Roulettekugel 26-mal auf ein schwarzes Feld fällt, wie es angeblich 1913 in Monte Carlo geschah. Dabei täte es oft gut, scheinbar Unwahrscheinliches in den Bereich des Möglichen zu rücken: Hätten Finanzmathematiker ihre Formeln ernster genommen, wäre der Börsencrash 2008 vermeidbar gewesen.

Insofern: Herzlichen Dank an die Lottomaschine. Sie hat dem Zufall an diesem Samstag ein bisschen Menschlichkeit zurückgegeben.

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Quelle:
SZ vom 13.05.2019
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