Süddeutsche Zeitung

Los Angeles: Babyleichen entdeckt:Die große, düstere Vergangenheit

Zwei 70 Jahre lang versteckte Babyleichen stellen die Polizei von Los Angeles vor ein Rätsel. In der heruntergekommenen Villa wurden eine signierte Ausgabe des Kinderbuchs "Peter Pan" gefunden - und alte Fotos.

Johannes Boie, Los Angeles

In einer der Truhen fanden die Frauen Überreste eines Fötus, eingewickelt in das Papier einer alten Zeitung. Hausmeisterin Gloria Gomez war schockiert. "Wir begraben das Kind" sagte sie zu ihrer Bekannten Yiming Xing. Die beiden Damen waren gerade dabei, Ordnung im Keller von Xings Haus zu schaffen. "Nein", sagte Xing. "Wir rufen die Polizei."

Die Beamten öffneten das zweite Bündel aus Zeitungspapier. Darin entdeckten sie ebenfalls ein totes Baby. Auf zahlreichen Gegenständen, die rund um die Bündel in den Truhen lagen, fand sich das Initial "JMB". Irgendwo lag auch eine signierte Ausgabe des Kinderbuches Peter Pan. Autor des Buches ist der Schotte James Matthew Barrie. Sein Kürzel lautet: JMB.

In Los Angeles ist der gewaltsame Tod irgendwelcher Menschen Alltag: Mann erschlägt Ehefrau, Kind erschießt Großeltern. So geht das Tag für Tag, durchschnittlich werden 40 bis 60 Menschen in der Stadt ermordet. Pro Monat. Aber mit den beiden Babys, die Mitte August gefunden wurden, ist alles anders. Sie lagen in einer von drei edlen Truhen, die im verwahrlosten Keller eines einst glamourösen Hauses im Bezirk Westlake standen, nur einen Steinwurf von Downtown entfernt.

Eine der beiden kleinen Leichen war in Zeitungspapier des Los Angeles Evening Herald eingewickelt. Hausmeisterin Gloria Gomez hatte von der Zeitung zuvor noch nie etwas gehört. Kein Wunder: Das Blatt wird schon seit Jahrzehnten nicht mehr gedruckt. Die Ausgabe, in die das Baby eingewickelt war, stammte aus dem Jahr 1937. Das andere tote Kind war in einer Los Angeles Times von 1935 eingewickelt worden. Die Babys waren also schon seit mehr als 70 Jahren tot? Und wer hat sie getötet?

Grausige Erinnerung an eine glorreiche Zeit

Der plötzliche Fund erinnert die Bewohner der Stadt an die Geschichte ihrer Heimat, an das große, düstere Los Angeles der dreißiger Jahre, an die Romane von Raymond Chandler, die Große Depression, die ersten Tonfilme aus Hollywood und an das große Versprechen einer glorreichen Zukunft, die sich die Menschen damals hier noch erwarteten.

In diesen längst vergangenen Tagen war Westlake noch das Bel Air von Los Angeles, ein wunderschönes Viertel, mitten in der Innenstadt. Hier lebten die Reichen und die Schönen. Der Apartmentblock, in dem die Babys gefunden wurden, ist eines der ersten Penthouse-Gebäude der Westküste. Ein wundervoller Bau - heute ist er nur noch ein Fremdkörper in einem völlig kaputten Viertel.

In Westlake leben auf zweieinhalb Quadratkilometern knapp 40.000 Menschen. In den Straßen des Viertels gehen Latino-Gangs ihren kriminellen Geschäften nach. Jeden Monat erschießen sich hier Bandenmitglieder, manchmal sterben auch Unbeteiligte. Psychisch kranke, obdachlose Menschen in dicken Winterjacken eilen durch die Straßen. Bei 30 Grad im Schatten.

Und jetzt diskutiert Los Angeles. Auf den Leserbriefseiten und in den Kommentarspalten der Zeitungen, in Internetportalen und im lokalen Fernsehen. Die Stadt diskutiert mehr als 70 Jahre alte Babyleichen. Los Angeles sei eben schon immer völlig verrottet gewesen, schreiben die einen. Andere stellen einen Zusammenhang mit dem Abtreibungsverbot her: Es mache damals wie heute Frauen zu Mördern. Als der Chef der Polizei von Los Angeles, Chief Charlie Beck, jetzt vor die Mikrofone der Journalisten trat und sagte, er werde alles tun, um die Morde aufzuklären, lautete der Vorwurf: Die Polizei solle doch lieber aktuelle Morde aufklären als ein uraltes Verbrechen.

Was die Polizisten bislang herausfanden, das klingt nach einem Krimi aus dem alten Hollywood. Da ist die Eintrittskarte für die Abschlusszeremonie der Olympischen Sommerspiele von 1932, farbig gedruckt auf teurem Papier, auf der die Leichen lagen. Da sind die Fotos der jungen, mutmaßlichen Mörderin in teuren Kleidern: Janet M. Barrie, JMB. Die Bilder zeigen sie als elegante, junge Frau.

Über eine mögliche Verwandtschaft zu J. M. Barrie, dem schottischen Autor von Peter Pan, wird immer wieder spekuliert. Merkwürdig, dass sich ausgerechnet sein Bestseller ebenfalls hier fand. Neben persönlichen Briefen entdeckte man auch noch weitere Dinge wie einen Pelzkragen, ein Kleid, einen mit Perlen bestickten Geldbeutel, eine Zigarrenbox mit Heiligenbildchen, medizinische Formulare und Postkarten - und auf manchen Gegenständen stand der volle Name: Janet M. Barrie.

DNS-Tests angeordnet

Barrie, so fanden die Ermittler heraus, war eine schottische Krankenschwester, die 1940 in die USA immigrierte, aber bereits seit 1925 immer wieder in Los Angeles und Chicago gelebt hatte. Sie soll 1995 in Vancouver eines natürlichen Todes gestorben sein, ihre sterblichen Überreste finden sich allerdings auf einem Friedhof nahe Los Angeles - im Grab ihres Gatten George, den sie 1964 geheiratet hatte, und dessen erster Frau Mary.

Die Ermittler haben bei Familienmitgliedern in Kanada nun die Erlaubnis eingeholt, die beiden Babyleichen genau untersuchen zu lassen. Mit DNS-Tests will man prüfen, ob die Kinder miteinander verwandt waren.

Die Wahrheit in diesem Fall jedoch wird vermutlich nie ermittelt werden. Zunächst müssen die Bewohner der 15-Millionen-Einwohner-Stadt also mit einem Rätsel leben. Und mit der quälenden Frage, warum die glorreichen Versprechungen der Vergangenheit für viele von ihnen bis heute niemals wahr geworden sind.

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Quelle:
SZ vom 08.09.2010/jab
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