Lokalreporter in Neapel:Der Chronist der Camorra

29 Festnahmen, ein Mord, ein Überfall: alles ganz normal, findet Luigi Sannino. Der Italiener ist Reporter einer Lokalzeitung in Neapel - und für das organisierte Verbrechen zuständig.

Andrea Bachstein

Wenn mal man bei simplen Klischees bleiben will, gehört zu den Berühmtheiten Neapels sicher dieses: seine Schönheit, der Vesuv, Pizza, Weihnachtskrippen, das Müllproblem und das Verbrechen. Letzteres ist das Metier von Luigi Sannino. Der große, schlaksige Mann mit der randlosen Brille hat eher etwas von einem nachsichtigen Mathelehrer an sich. Doch der 50-Jährige schreibt "Cronaca Nera", schwarze Nachrichten, wie in Italien die Berichterstattung über Kriminalität heißt.

Lokalreporter in Neapel: Italienische Carabinieri untersuchen den Bunker des Mafiabosses Pasquale Russo. Mit dabei: die Presse. Camorra-Kenner wie Luigi Sannino nennt man "Camorrologo".

Italienische Carabinieri untersuchen den Bunker des Mafiabosses Pasquale Russo. Mit dabei: die Presse. Camorra-Kenner wie Luigi Sannino nennt man "Camorrologo".

(Foto: AFP)

Für die konservative Lokalzeitung Il Roma, deren Anfänge fast 150 Jahre zurückreichen, verfolgt der Journalist bereits seit 1996 die Aktivitäten von Unterwelt und Polizei in Neapel. Seine Stadt sorgt dafür, dass ihm die Arbeit nicht ausgeht. Überregionale Medien berichten nur über spektakuläre Fälle, wenn wichtige Camorra-Bosse gefasst, große Rauschgiftmengen beschlagnahmt werden oder Clans besonders blutig aneinandergeraten. "Wir hier müssen alles berichten", sagt Sannino, von bewaffnetem Raub an wird es für die Cronisti der Lokalzeitungen interessant.

Auch so ein Mord zum Beispiel, wie der erste des Jahres 2011, bei dem ein Vorbestrafter im berüchtigten Stadtteil Secondigliano vor wenigen Tagen durch ein paar Kugeln des Kalibers 9 gestorben ist, macht im Rest Italiens keine Schlagzeilen. In Neapel herrscht bekanntlich die höchste Kriminalitätsdichte in Italien - was also soll daran besonders sein? 30 Prozent derer, die die Polizei hier überprüft, sind vorbestraft.

Kriminalität ist in vielen Facetten im Alltag präsent. So sagen Kenner, dass die allermeisten Geschäfte den Pizzo abgeben, Schutzgeld, das die Clans erpressen. Die, die nicht zahlen, gehörten sowieso schon der Camorra. Damit leben die Menschen hier genauso wie mit all jenen Vierteln, welche Hochburgen der Camorristi sind. Wenn man nicht gerade eine teure Uhr zur Schau stellt, kann man zwar normalerweise unbehelligt durch die pittoresken Gassen der berühmten Quartieri Spagnoli mitten in der Altstadt streifen. Wer es jedoch wagt, als Fremder mit dem Auto dort durchzufahren, der kann ganz schnell Begleitung bekommen. Zum Beispiel von drei Motorrädern, auf denen unübersehbar bewaffnete Kerle sitzen und signalisieren, dass man hier nicht erwünscht ist.

Mit solchen Drohgebärden wollen Clans ihren Anspruch auf das Territorium demonstrieren. Aus den Quartieren mit 60 und mehr Prozent Arbeitslosigkeit speist sich reichlich Nachwuchs für die Unterwelt und Stoff für Luigi Sanninos Berichte. In der Redaktion ist er praktisch nie, sein Arbeitsplatz befindet sich im Polizeipräsidium in der Via Medina, einem mächtigen Kasten aus der Zeit des Faschismus. Dort gibt es einen Presseraum, in dem sechs, sieben akkreditierte Polizeireporter verschiedener Blätter ihre Schreibtische haben. Das zusammengewürfelte Mobiliar ist abgenutzt, die Wände könnten einen neuen Anstrich vertragen, die Computermonitore sind 20 Jahre alt. Drei Telefone hat Sannino auf seinem Tisch und zwei Handys. Leider funktioniert gerade die Übertragung des Polizeifunks nicht, den sie sonst hier mithören, obwohl es eigentlich nicht erlaubt ist.

In der aktuellen Ausgabe von Il Roma finden sich an diesem Tag vier Texte von Sannino. Sie berichten von der Verhaftung von 21 Personen. Alle diese Verhaftungen haben zu tun mit einer der mehrjährigen großen Clanfehden, es geht um zwölf Morde. "So haben wir einen guten Jungen ermordet", heißt eine Überschrift, eine andere "Der, der auf Bruno Maltese schoss". Es wimmelt in den Texten nur so von Namen der Clans und Verdächtigen. Es sind keine reißerischen Geschichten, sondern nüchterne Faktenstücke. Sannino ordnet ein und erklärt Zusammenhänge. Für ihn ist die Mafia keine geheimnisvolle Macht, nichts wird mystifiziert. "Camorrologo", nennt man so einen Camorra-Kenner wie ihn. Sannino ist Experte für die mehr als 100 Clans der Stadt.

Organisiertes Verbrechen statt Fußball

29 Festnahmen für Neapel und seine Südprovinz meldet die Polizei am heutigen Tag. Anderswo würde das Polizeireporter in Hektik versetzen. Doch hier, in Neapel, bleiben alle ruhig. "Zwischen 20 und 30 Festnahmen pro Tag sind doch normal", sagt Sannino. Die Situation verändere sich seit einiger Zeit, erzählt er. "Es gibt jetzt immer mehr Delikte, die nicht mit der Camorra zusammenhängen. Täter, die auf eigene Faust handeln." Die Polizei hat so viele kleinere und größere Bosse gefasst, dass nun Köpfe fehlen, die die Geschäfte organisieren können. Bei Drogendelikten und Morden steige deshalb der Anteil, der nicht mit organisierter Kriminalität zu tun hat. Noch anders ist es bei dem Toten, der an diesem Tag gemeldet wird: ein Albaner, der schon vor Tagen bei einer Schießerei von einem Landsmann verletzt worden war, Zuhältermilieu, wie es scheint. Aber insgesamt, sagt Sannino, gebe es weniger Morde. Im Jahr 2010 waren es in der Stadt Neapel 27. "Ein Rekord", sagt Sannino, "ich glaube, so wenig hatten wir noch nie." In den Vorjahren waren es jeweils um die 100.

Lokalreporter in Neapel: Luigi Sannino, Reporter in Neapel

Luigi Sannino, Reporter in Neapel

(Foto: Andrea Bachstein)

Grob geschätzt hat Sannino schon mehr als 19.000 Artikel zum Thema Verbrechen geschrieben, dabei wollte er eigentlich mal Fußballreporter werden. Wie ist das, sich jeden Tag mit so viel Verbrechen und Gewalt zu beschäftigen? "Wichtig ist", sagt Sannino, "dass man nach der Arbeit aufhört, ständig darüber nachzudenken." Er hat eine Frau und zwei Kinder, liest gerne und interessiert sich für Filme und für Wirtschaft. Natürlich auch noch für seine alte Liebe, den Fußball, und selber spielt er Tennis. Natürlich sei die Lage in Neapel extremer als anderswo, aber damit muss er genauso wie jeder andere Mensch hier leben. "Man muss damit professionell umgehen, Abstand bewahren." Er glaubt, dass ihm das gelingt.

Abgestumpft oder gleichgültig wirkt Sannino kein bisschen, und den ganzen Tag ist kein zynisches Wort aus seinem Mund zu hören. "Ich glaube, mir würde es viel mehr zusetzen", sagt er, "wenn ich über ein Unglück mit toten Kindern berichten müsste."

Angst um sich hat er nicht. In all den Jahren hat er erst zwei Mal Drohungen erhalten. Sannino sagt, manchmal wollten ihn Angehörige von Festgenommenen beeinflussen. Aber seine Artikel sind immer betont sachlich, da soll ihm keiner was vorwerfen. Informationen in kriminellen Kreisen zu suchen, das lehnen er und seine Kollegen strikt ab. Lieber pflegt er seine wichtigen Kontakte mit der Polizei.

Jetzt will er bei der Squadra mobile vorbeischauen, dem Einsatzkommando für Neapel und die Provinz Caserta. Über verzweigte Treppen und ewige Flure des Polizeipräsidiums führt der Weg. Die Beamten, die er unterwegs trifft, grüßen ihn vertraut. Er hat sich nicht angemeldet, aber der Vizechef der Squadra mobile winkt Luigi Sannino lächelnd ins Büro. Andrea Curtale, ein großer Mann mit kahlem Schädel, hat vor ein paar Wochen einen großen Erfolg erzielt. Er hat die aufwendige Operation geleitet, in der sie in Casal di Principe einen der großen Mafiabosse verhaften konnten: Antonio Iovine, der schon seit 14 Jahren flüchtig war. Auf dem Schreibtisch des Polizeichefs steht als kleine Trophäe ein Foto von Iovine und Beamten der Squadra mobile nach der Festnahme. Sannino und Curtale reden wie alte Bekannte miteinander. Der Polizeichef erwähnt seinen Ärger, dass seine Leute keine finanzielle Anerkennung mehr bekommen für ihre Leistung. Sannino pflichtet ihm bei und geht weiter zum Provinzkommando der Carabinieri, der zum Militär gehörenden Polizei.

Hier erfährt der Reporter vom bewaffneten Überfall auf ein Postamt und von der Autopsie eines toten Bosses. Nichts Besonderes also. Zeit noch für einen Espresso mit den Pressebeamten in der Bar der Kaserne. Dann geht es zurück ins Büro, bald muss Sannino mit dem Schreiben anfangen, um 19.30 Uhr muss alles fertig sein. 29 Festnahmen, drei Artikel. Alles ganz normal.

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