Süddeutsche Zeitung

Literatur:Das habe ich noch nie gelesen!

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5000 Bücher - mehr schafft ein Mensch laut Untersuchungen im Leben nicht. Zehn Literatur-Begeisterte bekennen, welche Werke sie bisher verschmäht haben.

Von Kathleen Hildebrand und Hannes Vollmuth

Der Mensch, so hat es der Literaturexperte Rainer Schmitz einmal errechnet, kann in einem Leben ungefähr 5000 Bücher lesen. 5000, das ist eine nicht einmal so kleine Zahl - die aber lächerlich erscheint, wenn man bedenkt, dass allein im vergangenen Jahr 72 820 neue Bücher erschienen sind, und zwar nur auf dem deutschen Markt. Da wird einem schnell klar, warum sich das Buch des Franzosen Pierre Bayard so gut verkaufte, es trägt den Titel: "Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat". Denn es ist ja bekannt: Es gibt Bücher, die man gelesen haben muss, wenn man etwas auf sich hält, Pflichtlektüre nennt man das. Wer gibt schon gerne zu, dass er den "Faust" in Wahrheit viel zu langweilig fand, um ihn zu lesen, von vorne bis hinten? Die SZ hat Schriftsteller und Verleger genau darum gebeten: sich dazu zu bekennen, was sie nicht gelesen haben - und warum.

Arno Geiger, Schriftsteller

Welches Buch von Bedeutung haben Sie nie gelesen?

"Min Kamp" von Karl Ove Knausgård, ich habe keinen der sechs Bände gelesen.

Warum nicht?

Die Argumente derer, die begeistert sind, schrecken mich ab. Es entsteht bei mir der Eindruck, es könnte sich um ein literarisches Pendant zu Reality-TV-Formaten handeln. Karl Ove Knausgård trinkt Tee, dann geht er von einem Zimmer ins andere, und ich wohne dem bei. Und das über 700, 800 Seiten.

Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie es jemals lesen werden?

Wenn ich, wo ich grad bin, über die Terrasse ginge, und es läge dort ein Buch von Knausgård, würde ich nicht einfach vorbeigehen. Bestimmt nicht. So aber warte ich ab, lasse zehn Jahre verstreichen und beobachte, wie sich die Angelegenheit bei mir entwickelt.

Andreas Altmann, Schriftsteller

Welches Buch von Bedeutung haben Sie nie gelesen?

"Krieg und Frieden" von Leo Tolstoi.

Warum nicht?

Vor langer Zeit dachte ich, ich bin zu jung dafür, und seit langer Zeit denke ich, uff, jetzt ist es zu spät. Zudem kam mir eines Tages Woody Allen zu Hilfe, der auf die Frage "Sag an, Woody, um was geht es in ,Krieg und Frieden'" antwortete: "Na, um was schon, um Krieg und Frieden halt." Seitdem bin ich auf dem Laufenden.

Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie es jemals lesen werden?

Gut, Sie wollen es nicht anders, folglich will ich hoch und heilig der Weltöffentlichkeit versprechen: Nijet, ich werde es bis zu meinem letzten Schnaufer nicht lesen.

Elke Heidenreich, Kritikerin und Schriftstellerin

Welches Buch von Bedeutung haben Sie nie gelesen?

"Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" von Marcel Proust.

Warum nicht?

Ich habe es immer wieder versucht und bin immer wieder gescheitert. Ich kann so viele Konjunktive, so viel Trägheit und so viel allerkleinste Wichtigkeiten nicht mit der nötigen Geduld ertragen. Ja, ich weiß: Proust ist große Literatur. Aber eben auch sehr Häkeldeckchen. Was genau will er eigentlich erzählen? Was Erinnerung ist? Dann doch eher Nabokov lesen: "Erinnerung, sprich". Da spricht sie.

Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie es jemals lesen werden?

Gering. Wäre für mich: verlorene Zeit.

Clemens J. Setz, Schriftsteller

Welches Buch von Bedeutung haben Sie nie gelesen?

"Der Herr der Ringe" von John Ronald Reuel Tolkien.

Warum nicht?

Es gab eine Zeit, da alle um mich das Buch lasen und den Film sahen und mir begeistert nacherzählten, was da alles geschah. Da hatte ich das Gefühl: okay, dann muss ich ja nicht mehr.

Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie es jemals lesen werden?

Eher gering.

Wladimir Kaminer, Schriftsteller

Welches Buch von Bedeutung haben Sie nie gelesen?

In diesem Zusammenhang fällt mir das grandiose Buch von Christoph Kolumbus, "Briefe vom Ende der Welt" ein, das nicht nur ich, sondern überhaupt niemand gelesen hat.

Warum nicht?

Kurz zur Geschichte des Buches: Nachdem Kolumbus Amerika, Haiti und die Dominikanische Republik entdeckt hatte, gerieten seine Schiffe in einen furchtbaren Sturm, der mehrere Tage wütete. Das Wetter im XIV. Jahrhundert war furchtbar, viel schlimmer als jetzt. Kolumbus und seine ganze Mannschaft waren absolut davon überzeugt, dass sie den Sturm nicht überleben würden. Alle Masten gingen kaputt, mit kurzen Unterbrechungen begann der Sturm immer wieder aufs Neue. In dieser ausweglosen Situation sperrte sich Kolumbus in seiner Kajüte ein und begann, hektisch seine Erinnerungsnotizen zu einem Buch zu verarbeiten, in Form der Briefe an die damaligen Hüter der spanischen Krone, Ferdinand und Isabel, gerichtet. Als tiefgläubiger Mensch wusste Kolumbus, dass ein solcher Sturm nicht einfach so kommt, also wollte Gott ihn für seine Sünden bestrafen, nur für welche? In seinem Wahn kam Kolumbus auf die Idee, dass es dabei um noch nicht begangene Sünden ging, die von Menschen in allen von ihm entdeckten Ländern noch verübt werden. Mitten in der stürmischsten Nacht hatte er beim Schreiben eine Offenbarung. Auf einmal sah Kolumbus mit erschreckender Klarheit, wie es mit den Ländern, die er entdeckt hatte, weitergehen wird. Er hat alles kommen gesehen und fleißig aufgeschrieben. Anschließend wählte er eine unsichere, aber in der damaligen Not einzig mögliche Art der Veröffentlichung. Er ließ sich von den Matrosen ein Fass bringen, legte sein Manuskript hinein, verschloss den Deckel und warf das Fass über Bord. Wenig später flaute der Sturm ab. Kolumbus und seiner Mannschaft gelang es, die Schiffe zu reparieren und heil nach Hause zu kommen. In der Aufregung der Rückreise hatte er Einzelheiten seines Schreibens vergessen, er wusste nicht mehr, welches Schicksal den neu entdeckten Ländern widerfahren wird. Nach seiner Rückkehr wurde er als großer Seemann gefeiert.

Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie es jemals lesen werden?

Das Manuskript wurde nie gefunden. Entweder war das Fass nicht hermetisch genug verschlossen gewesen oder die Wellen hatten es zerschmettert. Wie es nun mit Amerika, Haiti und der Dominikanischen Republik weitergeht, wissen nur die Fische, aber sie schweigen.

Térezia Mora, Übersetzerin und Schriftstellerin

Welches Buch von Bedeutung haben Sie nie gelesen?

"Die Mittellosen" von Szilárd Borbély.

Warum nicht?

Daran bin ich gescheitert, weil schon die ersten Seiten so schmerzhaft waren, ich wusste sofort, das hier ist so wahr, dass ich es ganz zu lesen "unmöglich überleben" würde. Mit dieser Begründung habe ich auch abgelehnt, es zu übersetzen. Und was ist geschehen? Wenige Wochen später verübte der Autor Selbstmord. Er hat das Buch zwar zu Ende geschrieben, aber es schließlich doch nicht überlebt. Ich war am Boden zerstört, als ich es hörte und schämte mich sehr.

Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie es jemals lesen werden?

Ich hoffe, ich werde eines Tages doch die Stärke aufbringen, dieses Buch zu lesen.

Felicitas von Lovenberg, Verlegerin

Welches Buch von Bedeutung haben Sie nie gelesen?

"Der Mann ohne Eigenschaften" von Robert Musil.

Warum nicht?

Ich habe mehrfach Anlauf genommen, aber der Roman hat mich nie genug gepackt, um ihn zu Ende zu lesen.

Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie es jemals lesen werden?

Gering, fürchte ich - es gibt so viele andere Bücher, die ich viel lieber lesen möchte.

Maxim Biller, Schriftsteller

Welches Buch von Bedeutung haben Sie nie gelesen?

"Das Zeitalter des Zorns" von Pankaj Mishra.

Warum nicht?

Weil ich kein Rechter bin, der so tut, als sei er ein Linker, also wie fast alle deutschen Intellektuellen und Autoren zurzeit - weshalb ich auch keinen Spaß daran habe, einen Autor zu lesen, der ständig Islamismus mit Zionismus gleichsetzt.

Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie es jemals lesen werden?

So groß, wie dass die deutschen Redaktionen endlich aufhören werden, den scheinheiligen Altbolschewisten Slavoj Žižek zu drucken.

Olga Grjasnowa, Schriftstellerin

Welches Buch von Bedeutung haben Sie nie gelesen?

"Schuld und Sühne" von Dostojewski.

Warum nicht?

Ich habe es mehrmals versucht, bin aber noch nie über die ersten dreißig Seiten hinausgekommen. Das Buch hat irgendetwas an sich, das mich abstößt - ohne dass ich es genau benennen könnte. Aber ich bin bei der Dostojewski-Lektüre grundsätzlich nicht weit gekommen.

Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie es jemals lesen werden?

Womöglich werde ich mich eines Tages doch überwinden. Aber es ist unwahrscheinlich.

Michael Krüger, Autor und ehemaliger Verleger

Welches Buch von Bedeutung haben Sie nie gelesen?

Ich habe, obwohl ich mein ganzes Leben gelesen habe, 99 Prozent der Bücher, die man gelesen haben sollte, nicht gelesen. Bei manchen bildet man sich ein, sie gelesen zu haben, weil man etwas über sie gehört hat (z. B. Goethes "Faust", so eine Sache mit einem Pakt mit dem Teufel, wo ein Pudel vorkommt), bei anderen kann man so tun als ob ( z.B. Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit", in der ein Bub Kekse isst und sich plötzlich weitschweifig erinnert), aber wer hat sie wirklich gelesen? Hat jemand "Ahnung und Gegenwart" von Joseph von Eichendorff gelesen? Ich tue es gerade, mit einem weinenden und einem lachenden Auge. Aber ein Buch habe ich tatsächlich hundert Mal in der Hand gehabt, aber nie gelesen, nämlich Alexander Solschenizyns "Der Archipel Gulag", das monumentale Panorama über die sowjetischen Lager. Man muss es lesen, um das 20. Jahrhundert zu verstehen. Trotzdem ist es fraglich, ob ich es je lesen werde.

Warum?

Weil hier noch 400 andere Bücher liegen, die gelesen werden wollen. Elias Canetti hat irgendwo geschrieben, man sollte so alt werden, bis man alle Bücher gelesen hat, die man lesen wollte.

Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie es jemals lesen werden?

Sie können ja in 100 Jahren noch einmal anfragen, ob mir das gelungen ist - wenn Sie dann noch leben.

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Quelle:
SZ vom 02.09.2017
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