Süddeutsche Zeitung

Liebesgeschichte (16):Briefe aus der Vergangenheit

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Der Zauber ihrer gemeinsamen Geschichte liegt in einem Wandtresor versteckt, der vierundvierzig Jahre lang verschlossen bleibt.

Von Kim Lucia Ruoff

Feucht und vergilbt sind die Briefe, als Eva Koschade-Brönner sie das erste Mal in den Händen hält. Vier Jahrzehnte hatten sie im selbstgebauten Wandtresor ihrer Eltern gelegen. Auf den Umschlägen steht Eva Koschades Name, der Poststempel dokumentiert das Jahr 1970: das Jahr, in dem Eva Koschade Wolfram Brönner kennenlernte. Das Jahr, in dem sie sich aus den Augen verloren, weil ihr Vater die Briefe versteckte, im Wandtresor gleich neben dem Ehebett, um zu verhindern, was sich am Ende nicht verhindern lässt.

München 1970, im Garten von Eva Koschades Elternhaus brüten zwei Studenten über dem Konzept einer alternativen Satire-Zeitschrift. Wolfram Brönner, ein Bekannter von Eva Koschades älterem Bruder, ist zu Besuch. Sie ist beeindruckt von ihm, dem "ernsthaften jungen Mann", der Protest-Märsche gegen den Vietnam-Krieg organisiert, kritische Gedichte verfasst und viel reifer ist als all die Buben, die sie sonst kennt. Als er das nächste Mal zu Besuch ist, küssen sie sich heimlich, ganz hinten im Garten. Wolfram schreibt für Eva eine Liste mit Literaten, die man gelesen haben muss, er notiert Kafka, Hesse. Eva klettert für Wolfram über eine Leiter aus dem Fenster ihres Mädchenzimmers, um ihn in seiner Studentenbude zu besuchen. Da ist er 20, sie gerade 16.

Eva Koschades Vater stört nicht nur der Altersunterschied. Er hält nichts von der linken Studentenrevolte, die gerade im Land gesellschaftliche Strukturen aufbricht, hält nichts von Wolfram. Ohne dass Eva davon weiß, zitiert er ihn ins Wohnzimmer, nennt ihn einen Revoluzzer, und so ein Revoluzzer solle sich gefälligst nicht mit seiner Tochter herumtreiben. "Er hat mir den Kontakt zu Eva verboten, den Zugang zu seinem Haus. Ich war machtlos", erzählt Wolfram Brönner. Der Vater droht mit dem Staatsanwalt.

Wolfram Brönner zieht sich zurück; zumindest ein bisschen. Er schreibt nun zahlreiche Briefe an Eva, legt seine Gefühle in jede Zeile - und schlägt ein heimliches Treffen vor. In seiner Studentenbude in Freimann wartet er auf sie. Hofft, sie kletterte noch einmal für ihn aus dem Fenster. Wartet vergebens. "Ich dachte, sie möchte keinen Bruch mit ihrem Vater riskieren. Für mich war das ein klares Zeichen: Sie hatte sich gegen mich entschieden." Doch Eva Koschade kann sich gar nicht entscheiden, denn die Briefe erreichen sie nicht. Ihr Vater fängt sie ab und versteckt sie in seinem Wandtresor, hinter der Blümchentapete, gesichert durch drei Zahlenscheiben.

Und wie haben Sie sich verliebt?

Jedes Paar hat seine Geschichte, ob verheiratet oder nicht, ob hetero- oder homosexuell, jung oder alt. In diesem neuen Format, das von nun zum festen Repertoire des SZ-Panoramas gehört, erzählt das Ressort die Liebesgeschichten der Leser. Ist es nicht wunderbar, sich an das erste Treffen zu erinnern, den ersten Kuss? Schreiben Sie uns eine E-Mail an liebesgeschichte@sz.de, oder per Post an Süddeutsche Zeitung, Panorama, Hultschiner Straße 8, 81677 München. Wir sind gespannt.

Die Zahlenkombination kannte nur der Vater - doch der ist bereits gestorben

Als Eva Koschade viele Jahre später von der Existenz der Briefe erfährt, ist sie bereits mit einem anderen Mann verheiratet, hat sechs Kinder und Wolfram als Verursacher ihres ersten Liebeskummers abgehakt. 1999, kurz nachdem ihr Vater gestorben ist, erzählt ihr ihre Mutter, dass im Wandtresor noch Briefe liegen. Briefe von Wolfram. Eva Koschade versucht den Tresor zu öffnen, doch vergebens, die Zahlenkombination kannte nur ihr Vater. Und dennoch: "Da war plötzlich dieses Gefühl. Ich konnte mich an so viele Dinge erinnern, an Wolframs schüchternes Lächeln, seine Cordhosen, die er immer trug, an den Duft seines Deos." Eva googelt "Wolfram Brönner" und findet: einen Autor linksgerichteter Bücher. Sie ruft ihn an.

Und jetzt sitzen die beiden, inzwischen 62 und 68 Jahre alt, in ihrem Garten, während Wolfram erzählt, schaut Eva ihn an und sagt: "Du lächelst noch genau so - darf ich das sagen - schüchtern wie früher." Es ist derselbe Garten, in dem sie sich vor 46 Jahren kennengelernt haben.

Nach Evas Anruf ging alles sehr schnell. Sie treffen sich, gehen ins Kino, wandern auf einen Berg. Wolfram, selbst Vater von drei Kindern, ist bereits geschieden, Evas Ehe liegt in Trümmern. Der Zauber aus den Jugendtagen ist schnell zurück, sie werden ein Paar. Als Eva Koschades Mutter stirbt, erbt sie das Haus mit dem Garten und zieht mit Wolfram ein. Der Tresor im Schlafzimmer wird aufgebrochen, und: Die Briefe landen in den richtigen Händen. Nach 44 Jahren.

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Quelle:
SZ vom 28.09.2016
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