Gerade befindet sich Lena Meyer-Landrut in Phase drei, nach eigener Zählung. Es ist die Phase ihres öffentlichen Lebens, in der sie in eine enge Berliner Parklücke rückwärts einfädelt und dann ausruft: "Wenn ich eins kann, du!" Sie sagt das in gespielt prolliger Aussprache, ziemlich witzig. Es ist aber auch die Phase, in der sie von ihren Ängsten erzählt. Manches in den vergangenen Jahren, so sagt sie es, war ein "Horrortrip".
Die Lena Meyer-Landrut des Herbstes 2019 chauffiert den Journalisten in ihrem Auto fröhlich plaudernd von einem Café in Prenzlauer Berg ins andere, weil es im ersten zu laut war. Und weil es dann immer noch laut ist, bietet sie an, das Aufnahmegerät während des Gesprächs selbst zu halten. Diese Lena ist eine andere als die, von der man in den vergangenen Jahren gehört hat. Schwer zu sagen, ob da nun eine neue Lena sitzt, jedenfalls wirkt es an diesem Nachmittag so, sie wirkt locker, nahbar. Sie sagt: "Ich habe das Gefühl, ich habe meinen eigenen Kern wieder freigeschaufelt."
Frohe Botschaft: Das Making of zum "Boundaries"-Musikvideo ist online.
Lena im April 2015, damals noch mit Bob-Frisur.
#weareprettystrong - Wir sind ganz schön stark: Mit ihrem Oberarm wirbt Lena für eine Veranstaltung, die kostenfreie Kosmetik-Seminare für Krebspatientinnen anbietet.
Nicht unbedingt die entspannteste Haltung für einen Ausritt, dennoch dürfte dieses Foto in Erinnerung bleiben.
Lena als Meissner Porzellantasse? Mitnichten: Für das 3D-Gesicht mit Knacks hat der Make-up Artist auf die Technik des Kintsugi zurückgegriffen: eine aus Japan stammende traditionelle Kunst, gesprungene Keramik zu reparieren.
Auffallend viele Likes erntete Lena für dieses Foto "von besseren Tagen", das sie offenbar zur Aufmunterung für sich und ihre Fans postete. Kommentar von Moderatorin Palina Rojinski: "Ich leg dann mal meinen vierten Schokokeks doch weg."
Auch dieses Foto postete Lena unter dem Aspekt Körperwelten: "Aus gegebenem Anlass hier ein Spiegel Bild von mir in uwäsche. Warum fragt ihr euch? Warum nicht frag ich zurück. My body my choice"
Lena, morgens vor dem Badezimmerspiegel. Wem das komisch vorkommt, dem sei von Frau Meyer-Landrut ans Herz gelegt: "You're aloud to dream big. Man darf groß und verrückt denken und träumen und auch durchziehen!"
Nach einem passenden Foto hatte Lena angeblich gesucht, nachdem sie folgenden Satz gelesen hatte: "Jeder Schatten ist im letzen doch ein Kind des Lichts". War es womöglich umgekehrt?
Lenas Frisur und Pose erinnern an Jennifer Beals in Flashdance. Dabei war sie an dem Tag laut Instagram-Post einfach nur: "HAPPY!"
Ok, es ist soweit: Kim Kardashian hat Besitz von Lenas Körper ergriffen. Man darf gespannt sein, wie sich die Dinge nun weiterentwickeln.
Das konnte man in den vergangenen zehn Jahren ihrer Karriere nicht immer behaupten. Ganz am Anfang war sie das Mädchen von nebenan gewesen, die Normale, die für jeden erreichbar sein wollte. 2010 hatte die heute 28-Jährige mit ihrem Song "Satellite" den Eurovision Song Contest gewonnen. Wenn sie heute über damals spricht, sagt sie Sätze wie diesen: "Ich bin erstaunt darüber, wie lange ich mir ein kindliches Verhalten erhalten habe." Früher sei sie anderen Menschen unvoreingenommen begegnet. Trotz ihrer Kindheit. Meyer-Landrut trägt zwar den Nachnamen zweier deutscher Spitzendiplomaten. Sie wuchs aber ohne den Namensgeber alleine in einer kleinen Wohnung mit ihrer Mutter auf, ihr Vater verließ die Familie, als sie zwei war. "Ich bin damit aufgewachsen, dass es keine Kohle gibt", hat sie vor einiger Zeit einmal gesagt.
Und dann kam der Ruhm. Aus dem Mädchen wurde der Popstar, der arrogant wirken konnte und bei Fragen auch mal pampig reagierte. Wie mit Scheuklappen sei sie damals unterwegs gewesen, sagt Lena Meyer-Landrut heute: "Ich habe oft neuen Situationen keine Chance mehr gegeben und gedacht: Ich weiß ja eh, wie das wird." Wenn der Ruhm über einen hereinbricht, von einem Moment auf den anderen, dann kann sich das anfühlen wie eine Welle, die einen zu ertränken droht. Beispiele, denen es so erging, gibt es genügend, gerade in der Unterhaltungsbranche. Lena Meyer-Landrut tat, was viele vor ihr auch schon getan haben: Sie baute eine Wand zwischen sich und der Welt.
Die totale Überforderung
Wenn sie damals auf die Straße ging, wenn sie in einen Zug stieg, war immer auch die Angst da, angesprochen zu werden. "Ich war so verkrampft", sagt sie und ballt die Fäuste, wenn sie sich daran erinnert. Sie war 18, als der Erfolg über sie kam, die totale Überforderung. Der Umgang mit ihren Ängsten, das ist ein großes Thema für sie. In ihrem beruflichen Leben gibt es keine Konstante, jeden Tag verändert sich alles, sie sagt: "Deswegen fürchte ich mich unglaublich doll vor persönlicher Veränderung." Vermutlich weiß sie, dass man ihr diese Furcht nicht unbedingt ansieht, wenn man ihren Instagram-Account aufruft.
An diesem Nachmittag trägt Lena Meyer-Landrut ihr "Gammeloutfit", wie sie es nennt: schwere, schwarze Stiefel, Military-Style, eine unscheinbare Hose und ein übergroßes, grauschwarzes T-Shirt. Um ihren Hals baumelt eine Goldkette mit einer Art Plakette, nichts Glamouröses. Auf Instagram trägt sie: ultraknappe Sportoutfits, sexy anmutende Badeanzüge, weit ausgeschnittene Oberteile, sie ist geschminkt, gestylt, ein Popstar eben.
Anfang dieses Jahres hat sie öffentlich gemacht, dass die Liebesbeziehung mit ihrem langjährigen Freund, dem Basketballer Max von Helldorf, beendet ist, ebenfalls auf Instagram. In einem Videoclip zum Song "Love" spricht sie unter Tränen über das Verhältnis. Ihr Fotograf hatte den Gefühlsausbruch mitgefilmt. Meyer-Landrut entschied, dass die Aufnahmen gezeigt werden.
Es ist ein heikler Grenzgang zwischen Privatleben und Öffentlichkeit, den sie beschreitet. Mehr als drei Millionen Menschen folgen ihr auf Instagram, sie macht dort Werbung für eine Automarke, für Make-up und für einen Sportartikelhersteller. Und natürlich für ihre Musikalben. Was treibt sie an, auch sehr intime Momente mit der Öffentlichkeit zu teilen? Bedient sie damit nicht genau die Erwartungen an die Rolle als Popstar?
Lena Meyer-Landrut sieht das ein wenig nüchterner: Sie sieht sich als Geschäftsfrau. Sie hat eine Assistentin, keine Managerin, der Unterschied ist ihr wichtig, sie betont, dass sie alles selbst plant, Business und Merchandising. Zugleich hat sie etwas von einem emotionalen Dampfdruckkessel, sie formuliert das so: "Ich bin jemand, der Gefühle doll lebt." Vielleicht ist das die Crux an der Lena des Herbstes 2019. Sie weiß, dass sie der Öffentlichkeit sowieso nicht auskommt. Deswegen versucht sie, die Form selbst zu bestimmen, in der ihre Gefühle öffentlich werden. Und daraus Musik zu machen.
Beleidigungen und Gerüchte
So war es bei einem anderen Instagram-Post von ihr. Auf einem Foto betrachtet sie sich dort selbst im Spiegel - und kann doch kaum etwas erkennen. Denn der Spiegel ist beschmiert mit Beleidigungen, die sie im Netz bekam. Gerüchte schwirrten herum, Paparazzi schossen Fotos von ihr mit anderen Männern, mit denen sie seit Jahren befreundet ist. "Komplett an den Haaren herbeigezogen" nennt sie die Geschichte. Weil die Männer alle in festen Beziehungen waren, hagelte es im Netz Beschimpfungen übelster Sorte. Noch heute wird sie wütend, wenn sie darüber spricht. Sie schaltete ihren Anwalt ein.
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Aber sie machte eben auch den Song "Thank you" daraus. Im Musikvideo sieht man sie als Teilnehmerin einer Gruppentherapie auf dem Boden liegen, zwischendurch steht sie auf und singt: "Thank you for knocking me down. 'Cause these scars have just made me stronge." Das sei keine für den Song kreierte PR auf Instagram gewesen, sagt sie. Es war eher andersherum, "es gab das Thema, die Emotion und den Song. Das ist für mich authentisch."
Authentizität ist eine Währung im Showbusiness, eine gute Geschäftsfrau weiß das natürlich. Was sie sagt, was sie postet, was sie von sich preisgibt, nichts passiert zufällig - aber nicht alles geschieht nur aus geschäftlichen Gründen, das wäre zu einfach. Ja, sie sei eine Influencerin, allerdings "gezwungenermaßen". In Zeiten, in denen Öffentliches und Privates, Realität und Fiktion kaum mehr zu unterscheiden sind, wirkt dies manchmal auch wie der Versuch einer Sängerin, ihren eigenen künstlerischen Weg zu finden. Sie will in Zukunft häufiger Sachen posten, die außerhalb des Pop-Beauty-Sport-Kosmos liegen, für den sie auf Instagram steht. Die Anhänger der Klimaproteste unterstützen zum Beispiel. Sich freischwimmen.
Ein kreativ wertvoller Horrortrip
Für ihr aktuelles Album, "Only Love, L", das im Frühjahr 2019 erschienen ist, hatte sie bereits Mitte 2017 die meisten Stücke geschrieben. 80 Prozent des Albums seien fertig gewesen, sagt sie. Dann stellte sie sich die Frage: "Warum mache ich das?", und musste sich eingestehen: "Ich hatte keine Antwort darauf." Daraufhin beschloss sie, Album und Tour abzusagen und sich um die Warum-Frage in der Musik zu kümmern.
Es war ihr alles zu viel geworden, und dann tauchten immer mehr dunkle Flecken auf. Nicht nur in der Musik, auch im Privatleben. Immerhin aber brachte sie dieser "Horrortrip", wie sie es nennt, musikalisch weiter: Die Rezensionen dieses Albums sind oft positiv. Sie singt von Selbstakzeptanz und lässt mitunter Gesellschaftskritisches einfließen. "Aus meiner Reise zu mir selber hat sich der rote Faden für meine Musik entwickelt", so sieht sie das.
Sie spricht dann noch davon, dass sie auch versuchen wolle, andere zu inspirieren und klingt dabei sehr nach Influencerin. Mit dem Baby am Nachbartisch im Café fängt sie gleich mal an. Auf dem Arm der Mutter schreit es sich die Seele aus dem Leib. "Lass es raus!", ruft sie. Eines ist doch gleich geblieben in allen Karrierephasen der Lena Meyer-Landrut: Deutschland schaut ihr beim Erwachsenwerden zu.