Leben nach der Katastrophe von Fukushima:"Einfach fleißig dekontaminieren"

Die japanische Gesellschaft hat sich seit der Katastrophe im Atomkraftwerk Fukushima-1 verändert, doch die Regierung gibt weiterhin nur Durchhalteparolen aus. Agrarökonom Kouichi Koike und Umweltaktivistin Akiko Yoshida über Bio-Obst aus Fukushima, die neu erwachte Erinnerung an Atombomben-Opfer und die quälenden Fragen, die bleiben.

Jasmin Off

Akiko Yoshida ist Mitglied in der Umweltorganisation Friends of the Earth Japan, seit April 2011 betreut sie dort die Themen Atom-und Energiepolitik. Die Organisation kämpft vor allem für den Schutz von Kindern vor Strahlenbelastung. Kouichi Koike baute im Bezirk Onami der Präfektur-Hauptstadt Fukushima Obst und Gemüse zur Selbstversorgung an. Er beschäftigt sich seit mehr als 20 Jahren mit nachhaltiger Landwirtschaft und engagiert sich in der Gesellschaft für Biologische Landwirtschaft Japan.

Akiko Yoshida

Akiko Yoshida von der Umweltorganisation Friends of the Earth Japan kämpft für den Schutz von Kindern vor Strahlenbelastung.

(Foto: Global2000)

Süddeutsche.de: Vor einem Jahr erlebte Japan erst eine Erdbeben- und Tsunami-Katastrophe, dann das Reaktor-Unglück in Fukushima-Daiichi. Was hat sich für Sie persönlich seit dem 11. März 2011 verändert?

Kouichi Koike: Ich bin nach der Katastrophe direkt mit meiner Familie aus der Stadt Fukushima geflohen, dann mussten wir erst einmal in Ungewissheit abwarten, wie es weitergeht. Wir wollten schnell wieder nach Hause, aber die radioaktiven Werte waren einfach zu hoch. Ein Jahr lang habe ich jetzt nichts tun können, das war eine qualvolle Pause. Jetzt sind wir wieder zurück, aber die Radioaktivität ist immer noch zu hoch, um Landwirtschaft zu betreiben. Früher habe ich Äpfel, Pfirsiche, Birnen, Blaubeeren und vieles mehr angebaut, heute kann ich nichts mehr anpflanzen.

Akiko Yoshida: Vor dem Unglück habe ich bei Friends of the Earth Japan vor allem die Themen Abfallvermeidung und Klimaschutz betreut. Seit einem Jahr aber liegt unser Fokus jetzt auf der Atomkraft, vor allem geht es um die Bekämpfung der Folgen der Fukushima-Katastrophe.

Süddeutsche.de: Wie geht es der japanischen Gesellschaft ein Jahr nach dem Unglückstag?

Akiko Yoshida: Von der japanischen Regierung werden die Auswirkungen bagatellisiert, dabei sind sie enorm. Die meisten Menschen aus der Region um Fukushima-1 haben ihren Beruf verloren und mussten wegziehen. Nach offiziellen Daten wurden etwa 150.000 Menschen evakuiert, 100.000 aus der Evakuierungszone im Umkreis von 20 Kilometern und dann noch einmal 50.000 die um diesen Kreis herum lebten. Sie können nicht zurück, weil die Strahlenbelastung dort immer noch sehr hoch ist. Diese Menschen sind für ihr Leben gebrandmarkt, von vielen werden die Opfer der Katastrophe Hibakusha genannt. So wurden in Japan bisher die Überlebenden der Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki genannt.

Kouichi Koike: Und auch für diejenigen, die geblieben sind, hat sich das Leben stark verändert, ihnen wurde auf einmal die Existenzgrundlage entzogen. Die einen haben sich einfach damit abgefunden, dass sie nie mehr Landwirtschaft betreiben und damit ihr Geld verdienen können. Die anderen aber möchten hier nicht weggehen. Sie versuchen mit Ach und Krach dort zu überleben. Dafür müssen sie viel mit unterschiedlichen Anbauarten experimentieren, damit die Lebensmittel so wenig wie möglich belastet sind. So versuchen sie dort zu überleben.

Süddeutsche.de: Es gab viel Kritik am Krisenmanagement der japanischen Regierung. Wie gut ist die Bevölkerung heute informiert?

Akiko Yoshida: Schlecht. Im Moment weiß keiner so genau, was in den havarierten Reaktoren passiert. Die Regierung gibt ihre Informationen möglichst versteckt heraus. Am Anfang wurde immer gesagt, die Strahlung sei nicht sofort schädlich. Doch zu diesem Zeitpunkt hatten wir schon die Kernschmelze. Bestätigt wurde uns das aber erst im Juni, also drei Monate nach der Katastrophe. Am Anfang hieß es von Tepco auch, dass der Tsunami das Unglück verursacht hat. Jetzt wissen wir: Es war sicher das Erdbeben. Damit sind jetzt alle Argumente für Atomenergie widerlegt. Denn die Reaktoren des havarierten Atomkraftwerks waren ja nach allen Richtlinien genehmigt. Aber man hat doch jetzt gesehen, dass es unvorhersehbare Katastrophen gibt, denen die AKWs nicht standhalten.

Kouichi Koike: Auch die Landwirte fühlen sich von der Regierung nicht ernst genommen. Nach deren Angaben dürfen die landwirtschaftlichen Produkte aus der Region mit höchstens 500 Becquerel belastet sein, wir Biobauern fordern, dass diese Grenze auf 100 gesenkt wird. Das wäre ein Kompromiss, aber eigentlich sind selbst 50 noch zu hoch. (Anmerkung: Becquerel ist eine Einheit für die Aktivität eines radioaktiven Stoffes und gibt die mittlere Zahl der Atomkerne an, die pro Sekunde zerfallen. In der Europäischen Union liegt der Grenzwert derzeit bei 600 Becquerel pro Kilogramm für alle Lebensmittel außer Milch und Babynahrung.)

Süddeutsche.de: Wie stark sind japanische Produkte denn derzeit noch belastet?

Kouichi Koike: Vor allem Feigen, Kaki und Beerenfrüchte sind stark belastet. Besonders gefährlich ist es auch immer noch, Wurzelgemüse zu essen, Rettich oder Möhren zum Beispiel. Kurz nach dem Unglück war vor allem Spinat sehr stark belastet, dann kam Tee dazu, bei diesen beiden haben sich die Werte aber mittlerweile stabilisiert. Bis die Lebensmittel komplett unbelastet sind, wird es - so glauben wir - noch etwa 100 Jahre dauern. Dann ist die radioaktive Belastung auf etwa ein Zehntel des heutigen Wertes reduziert.

"Wo bleibt die Verantwortung?"

Süddeutsche.de: Japan ist ein hochtechnologisiertes Industrieland, viele hielten eine Katastrophe wie die von Fukushima für unvorstellbar. Ist dieser Sicherheitsmythos ein Jahr später erschüttert?

Kouici Koike Fukushima Bauer

Kouichi Koike baut in der Nähe der Stadt Fukushima - 60 Kilometer vom Unglücksort entfernt - Obst und Gemüse an. Er setzt sich für biologische Landwirtschaft ein - und für niedrigere Grenzwerte bei radioaktiver Strahlung in Lebensmitteln.

(Foto: privat)

Akiko Yoshida: Natürlich, dieser Mythos ist zerstört. Und trotzdem gibt es immer noch Verfechter von Atomkraft. Sie sehen die Kernenergie als wichtige Energiequelle für Japan oder als lukrativen Exportfaktor. Und sie sagen, dass der japanische Sicherheitsstandard immer noch höher ist als anderswo. Das ist für mich als Atomkraftgegnerin schon sehr erstaunlich.

Koichi Koike: Mein Hof trägt den Namen Amoto - das ist ein japanisches Wortspiel und bedeutet frei übersetzt, dass man sichere Lebensmittel zu sich nimmt. Jetzt klingt das irgendwie ironisch oder? Aber ich war schon vor Fukushima ein Atomkraftgegner und wusste, wie schlimm es werden würde, wenn einmal etwas passiert.

Süddeutsche.de: Wie hat sich die Anti-AKW-Bewegung in Japan seit dem Unglück verändert?

Akiko Yoshida: Sie ist stark gewachsen. Dabei ist es für Japaner kulturell bedingt sehr unüblich, öffentlich für oder gegen etwas zu demonstrieren. Aber jetzt gehen plötzlich sehr viele Menschen gegen Atomkraft auf die Straße und engagieren sich in Umweltorganisationen und NGOs. In Tokio gab es einige große Demos mit mehreren zehntausend Teilnehmern, das war sehr eindrucksvoll. Eine Demo mit bunten Schildern kannten wir bisher nur von Bildern aus Europa oder den USA. Dass in Deutschland so viele Menschen demonstriert haben, hat uns sehr überrascht und auch bestärkt.

Kouichi Koike: Bei den Demonstrationen sind jetzt besonders viele junge Leute dabei, das stimmt uns sehr hoffnungsvoll. Besonders Mütter von kleinen Kindern stehen der Atomkraft kritisch gegenüber. Sie sind skeptisch geworden, was sie im Supermarkt noch kaufen können.

Süddeutsche.de: Wie reagiert die Politik auf die Proteste?

Akiko Yoshida: Die Regierung hat angekündigt, ihre Haltung zu überdenken. Bis Ende März sollen verschiedene Optionen für die künftige Energiepolitik des Landes ausgearbeitet werden. Danach soll es eine öffentliche Diskussion über diese Alternativen geben: Sofortiger Ausstieg, schrittweiser Ausstieg oder alles so lassen, wie es bisher war. Ich bin natürlich dafür, dass Japan sofort aus der Atomstromgewinnung aussteigt. Das Mindeste ist, dass ein Zeitplan veröffentlicht werden muss, bis wann wir das letzte AKW abschalten werden. Ich sehe noch keine energiepolitische Wende, aber zumindest einen kleinen Wandel.

Süddeutsche.de: Und wie geht es für die Betroffenen weiter?

Akiko Yoshida: Im April sollen die Evakuierungszonen aufgelöst werden, viele Dörfer wollen ihre Bürger wieder zurücklassen. Das ist aber problematisch, weil die Strahlenbelastung immer noch sehr hoch ist. Die Regierung sagt dazu nur: Wir müssen einfach sehr fleißig dekontaminieren.

Süddeutsche.de: Gibt es Fragen, die Sie ein Jahr nach dem Unglück noch quälen?

Akiko Yoshida: Ich habe vor allem eine große Frage, die ich mir oft stelle: Warum gibt es eigentlich Tepco immer noch? Die Entschädigungszahlungen des Konzerns kamen zu spät und wurden bisher nur zur Hälfte ausbezahlt. Am Ende bezahlt die Regierung dafür, also die Bürger selber. Wo bleibt hier die Verantwortung?

Kouichi Koike: Es fällt mir schwer, meine Emotionen seit dem Unglück zu benennen. Ich spüre keine richtige Wut, aber ich bin unendlich traurig. Es tut mir so leid, dass wir diese Katastrophe nicht selber bewältigen können und die Probleme nicht unter Kontrolle bringen. Ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich bedauere, dass wir das hilflos der nachfolgenden Generation überlassen müssen.

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