Gerichtsverfahren über Raser:Sind sie Mörder?

BGH prüft Lebenslänglich-Urteil für Berliner Raser

Berlin im Februar 2016: Die gesperrte Tauentzienstraße nach einem illegalen Autorennen.

(Foto: dpa)

Vor über vier Jahren starb ein unbeteiligter Autofahrer nach einem Wettrennen auf dem Ku'damm. Die beiden jungen Raser wurden seitdem zweimal wegen Mordes verurteilt. Nun verhandelt der Bundesgerichtshof erneut über den Fall.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Die Verhandlung hatte sich schon in den späten Vormittag hineingezogen, die Verteidiger hatten nüchtern und kleinteilig begründet, warum das Mordurteil gegen die beiden Angeklagten - als Berliner Ku'dammraser zu trauriger Prominenz gekommen - aufzuheben sei, da sagte die Strafsenatsvorsitzende Beate Sost-Scheible den Satz: "Das ist das Problem bei den Fällen: Man muss in die Köpfe reinschauen." Natürlich wollte sie kein höchstrichterliches Gedankenlesen betreiben, vielmehr sprach sie damit das schier unüberwindliche Problem an, vor dem Richter stehen, wenn sie einen Raser wegen Mordes verurteilen wollen.

Mord geht eben nur mit Vorsatz, und für einen Vorsatz muss man anhand der Umstände und Zeugenaussagen irgendwie herausfinden, was im Kopf der beiden jungen Männer vorging, als sie mit mehr als 160 Stundenkilometern über eine rote Ampel jagten. Haben sie sich vorgestellt, dass da gleich ein Auto quer kommt, wie es dann auch passiert ist? Dass sie es mit unvorstellbarer Wucht rammen und den Fahrer töten würden? War der Sieg im Rennen wichtiger als das Leben anderer Verkehrsteilnehmer? Koste es, was es wolle, wie es im Urteil heißt? Oder war da gar nichts in diesen Köpfen, außer dem Adrenalin, das jeden Gedanken vertrieb?

Das Landgericht Berlin hatte im Februar 2017 mit dem Mordurteil gegen die beiden jungen Männer ein Fanal gesetzt. Lebenslang wegen eines illegalen Autorennens mit tödlichem Ausgang, das gab es noch nie. Aber geht das? Die Frage trieb die Republik damals um. Im Frühjahr 2018 hob der Bundesgerichtshof das Berliner Urteil wegen gravierender Rechtsfehler auf, aber ein Jahr später erkannte das Landgericht erneut auf Mord, wieder gegen beide Angeklagte - den Fahrer des hochmotorisierten Wagens, der auf einer Kreuzung einen Jeep rammte und dabei den Fahrer tötete, aber auch seinen Konkurrenten bei der Wettfahrt durchs nächtliche Berlin. Lebenslang für beide, auch für den Mittäter.

Die zentrale Frage: Kann man einem Raser Vorsatz unterstellen?

An diesem Donnerstag hat der BGH nun zum zweiten Mal über die Revision in dem spektakulären Fall verhandelt. Zumindest der Mittäter könnte gute Chancen haben, denn selbst die Bundesanwaltschaft hat zu seinen Gunsten die Aufhebung des Urteils beantragt. Aber auch sonst waren die Zweifel der Senatsvorsitzenden am Berliner Urteil unüberhörbar.

Die Klippe, an der das zweite Berliner Mordurteil kentern könnte, wird unter Juristen unter dem Stichwort "Eigengefährdung" diskutiert. Gemeint ist folgendes: Wenn ein Raser davon ausgeht, bei einem Unfall würde er sein eigenes Leben aufs Spiel setzen - kann man ihm dann wirklich den Vorsatz unterstellen, jemanden zu töten? Oder ist das ein logischer Widerspruch? Der Raser, der mit Mordvorsatz durch die Straßen jagt, wäre damit ja eine Art Suizidmörder. Das ist der Grund, warum der BGH das Berliner Urteil sorgfältig auf alle Passagen abklopfen wird, in denen es um die Vorstellungen der Angeklagten geht. Um in ihre Köpfe zu schauen.

Und Beate Sost-Scheible setzte eine ganze Reihe von Fragezeichen. War dem jungen Mann, der den Jeep rammte, wirklich klar, dass ihn Airbags von vorn und von der Seite auffangen würden wie weiche Kissen? Dass er ohne Gurt - er fuhr immer ohne Gurt - fast so sicher war wie mit? Oder schoss ihm auch das eigene Risiko durch den Kopf? Wäre zum Beispiel sein Wagen von der Seite gerammt worden, wäre er kaum mit leichten Blessuren davongekommen. Und hat er wirklich einen Unfall in Kauf genommen - er, der sich hinterher mit Freunden treffen und vermutlich mit einem gewonnenen Rennen angeben wollte? Oder dachte er: Wird schon gutgehen?

Das Berliner Urteil weist hier offenbar einige Lücken auf. Einer Verkehrspsychologin hat der junge Mann gesagt, er könne nachts kilometerweit sehen und sei in der Lage, jederzeit anzuhalten. Das ist ziemlich irre, klar. Aber passt eine derart grandiose Selbstüberschätzung wirklich mit einem Mordvorsatz zusammen?

Der BGH wird sein Urteil am 18. Juni verkünden. Noch ist offen, wie es ausgeht, aber ein Signal an Staatsanwälte und Gerichte dürfte das Verfahren schon jetzt aussenden. Raser wegen Mordes anzuklagen, ist ein juristisches Vabanquespiel.

Zur SZ-Startseite

SZ PlusHäusliche Gewalt
:Die Geschlagenen

Seit Queeny vor zwei Jahren vor ihrem Mann floh, lebt sie in einem Wohnheim in London. Er kommt trotzdem, wann er will - und geht, wenn sie weint. Viele Frauen erleben Ähnliches: Sicherheit gibt es nicht und die Corona-Krise macht alles schlimmer.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: