Kritik an Erste-Hilfe-Kursen:Freiwillig ist keiner hier

Zu wenig Platz, zu wenig Zeit, zu wenig Geld: Sind deutsche Erste-Hilfe-Kurse wirklich so schlecht, wie eine Charité-Studie darlegt? Ein Besuch bei einem Lebensretter-Kurs.

Ines Schipperges

13 Teilnehmer. Ein junger Rettungssanitäter. Ein Erste-Hilfe-Kurs bei der Allgemeinen Sanitätshilfe in München. "Schätzen Sie mal, wie viele Verletzte es pro Jahr bei Verkehrsunfällen in Bayern gibt", fordert Sanitäter Patrick Kögl die Teilnehmer auf. Ratloses Schweigen. "Ungefähr hundert", sagt eine junge Frau. Sie liegt falsch. Sehr falsch. 2007 gab es 345.000 Unfälle, 995 Menschen starben. Es ist "ziemlich wahrscheinlich", sagt Kögl, dass jemand als Ersthelfer am Unfallort eintrifft, der keine Sanitätsausbildung hat. Ein Erste-Hilfe-Kurs kann Menschenleben retten, das ist bekannt. Jedoch: Wie gut sind die Kurse, die in Deutschland angeboten werden?

Erste-Hilfe-Koffer; dpa

Erste Hilfe bedarf mehr als nur eines Köfferchens.

(Foto: Foto: istock)

Eine Studie, die nach einem Bericht des Spiegels Notfallmediziner Jan Breckwoldt von der Berliner Charité durchführte, prangert die Kurse an. Es wird bemängelt, dass die Ausbilder weder didaktische noch fachliche Qualitäten besitzen. Im Zweifelsfall fühlen sich die potentiellen Ersthelfer unsicher und ängstlich - und versuchen daher gar nicht erst, Hilfe zu leisten.

"Nur eine unterlassene Hilfe ist eine falsche Hilfe"

Das jedoch ist fatal: Der Ersthelfer spielt eine entscheidende Rolle im Wettlauf zwischen Leben und Tod. In München benötigt der Rettungsdienst sieben bis acht Minuten zur Unfallstrecke - was, wie Kögl hervorhebt, im deutschlandweiten Vergleich ungewöhnlich schnell ist. Nach acht Minuten ohne Versorgung jedoch sinken - so die Statistik - bei einem Schwerverletzten die Überlebenschancen drastisch, es geht daher stets um Sekunden. "Die einfachsten Maßnahmen sind lebensrettend", betont Kögl.

Erste Hilfe müsse auf simple Grundsätze reduziert werden, sagt Kögl. Zu viele Informationen führten zu Verwirrung - und dadurch zur Tatenlosigkeit. Je mehr Anweisungen gegeben werden, desto mehr glaubt der Kursteilnehmer, etwas falsch machen zu können. Dabei heißt es doch: "Nur eine unterlassene Hilfe ist eine falsche Hilfe." Auch Kögl gibt sich redlich Mühe, die Teilnehmer nicht zu überfordern: "Um einem bewusstlosen Patienten das Leben zu retten, überstrecken Sie seinen Kopf. Dieser Handgriff heißt im Volksmund lebensrettender Handgriff. Warum wohl?"

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Das Durchpauken des Stoffes, die praktischen Übungen und die Forderungen der Ausbilder.

Freiwillig ist keiner hier

So schlecht wie von der Charité-Studie behauptet sind die didaktischen Fähigkeiten des Kursleiters nicht. Er geht langsam vor, benutzt selten Fremdwörter oder Fachausdrücke und versucht es sogar mit ein wenig Ironie: "Hat zufällig irgendjemand hier in seinem Leben schon einmal Alkohol getrunken?" Die Teilnehmer spricht er direkt an, er bringt Beispiele aus der Praxis, stellt Fragen und möchte zum Mitdenken auffordern. Man fühlt sich schon fast wie in der Schule.

Es ist der Fluch des Müssens, der schwer auf allen lastet und Lustlosigkeit in diesem Kurs verbreitet. Die Kursteilnehmer müssen einen Erste-Hilfe-Kurs absolvieren - sie brauchen ihn für den Führerschein oder um Gruppenleiter werden zu dürfen. Freiwillig ist keiner hier. Kögl muss mit dem Stoff durchkommen, ein häufiger Blick auf die Uhr unterstreicht die Zeitnot.

Zu wenig Platz, zu wenig Zeit, zu wenig Geld

Lebhafter wird die Stimmung erst, als es an die praktischen Übungen geht. "Atmet der Patient noch?" - "Nö." Also muss reanimiert werden. Schade, dass nicht jeder Handgriff geübt werden kann. 13 stabile Seitenlagen, 13 Reanimationen, 13 Druckverbände - das dauert.

Die Probleme der Erste-Hilfe-Kurse liegen dort, wo sie eigentlich immer liegen: Es gibt zu wenig Platz, zu wenig Zeit, zu wenig Geld. Es müsste mehr Kurse geben, mit weniger Teilnehmern. Es müsste Auffrischkurse geben - für Leute, die nicht am vorgeschriebenen Kursstoff interessiert sind, sondern ihr Wissen aktuell halten und die gängigsten Handgriffe wiederholen wollen. Es wäre dringend nötig - doch ein einmal absolvierter Kurs für den Führerschein gilt ein Leben lang.

Dabei verändern sich mit den medizinischen Erkenntnissen und Erfahrungen auch die Richtlinien für Erste Hilfe. Der Algorithmus für Wiederbelebungsmaßnahmen etwa wurde von 15-2 in 30-2 geändert. Seit 2001 zählt die Pulskontrolle nicht mehr zu den Maßnahmen der Ersten Hilfe und 2004 wurde die Mund-zu-Mund-Beatmung durch die Mund-zu-Nase-Beatmung ersetzt. Aber wer weiß das schon, der 1970 seinen letzten Kurs gemacht hat, um seinen Führerschein zu bekommen?

Aktualität und Praxis, diese beiden Aspekte fehlen laut Charité-Studie den Erste-Hilfe-Kursen in Deutschland. Eine ähnliche Studie führte kürzlich in Österreich dazu, dass die Kursprogramme überarbeitet und erweitert wurden. Praxisnahe Übungen, kleinere Gruppen und symptomorientierte Hilfeleistungen sollen die realitätsfernen und theorielastigen Lehrgänge ersetzen.

Das würde auch deutschen Kursen gut tun. Ein Teilnehmer gesteht, er verstehe "nicht alles", es gehe doch recht schnell und sei viel auf einmal. Auf die Frage, ob er sich nun in der Lage fühle, im Notfall besser helfen zu können, erklärt er zögernd: "Ein bisschen." Das kann im Notfall ein bisschen zu wenig sein.

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