Kriminalstatistik:250 missbrauchte Kinder pro Woche

Jugendämter prüften 107 000 Gefährdungen des Kindeswohls

Die Kriminalstatistik erfasst nur Taten, die angezeigt wurden, die Dunkelziffer dürfte höher sein.

(Foto: dpa)
  • Der jüngsten polizeilichen Kriminalstatistik zufolge stagniert die Zahl von Kindesmisshandlungen auf einem hohen Niveau.
  • 2017 erlebten 4200 Kinder schwere körperliche Gewalt. Mehr als dreimal so viele (13 539) wurden Opfer von sexuellem Missbrauch.

Von Verena Mayer, Berlin

2017, Staufen bei Freiburg: Ein neunjähriger Junge wird missbraucht und nicht nur das. Seine eigene Mutter und ihr Freund überlassen das Kind gegen Geld mehreren Männern für sexuelle Handlungen. Der Prozess gegen das Paar beginnt am kommenden Montag, zwei Männer, die das Kind missbraucht haben, sind bereits verurteilt worden. Doch so aufsehenerregend der Fall aus dem Breisgau ist - er ist auch typisch für sexuellen Kindesmissbrauch: Die Täter sind Menschen, die dem Kind nahestehen, und über lange Zeit bemerkt niemand etwas.

Dieses und andere Verbrechen nahm die Deutsche Kinderhilfe zum Anlass, um die jüngste polizeiliche Kriminalstatistik noch einmal auf einen ganz bestimmten Punkt hin zu untersuchen: die Straftaten gegen Kinder. Die neuen Statistiken unterscheiden sich nicht besonders von denen der Vorjahre - und zeichnen gerade deswegen ein deprimierendes Bild. Denn die Zahlen gehen nicht zurück, Gewalt an Kindern ist und bleibt ein Alltagsphänomen.

Manche Täter knüpfen über Online-Spiele Kontakte zu ihren Opfern

So wurden im vergangenen Jahr 143 Kinder getötet, der Großteil von ihnen war jünger als sechs Jahre alt. Die Täter: meistens Bezugspersonen. Auch die Zahl der Misshandlungen stagniert seit Jahren auf hohem Niveau, 2017 erlebten 4200 Kinder schwere körperliche Gewalt wie etwa Knochenbrüche, Verbrühungen oder innere Verletzungen. Mehr als dreimal so viele Kinder (13 539) wurden Opfer von sexuellem Missbrauch - "das sind mehr als 250 Kinder pro Woche", sagt Holger Münch, Präsident des Bundeskriminalamts (BKA). Diese Zahl ist im Vergleich zum Vorjahr leicht gesunken, was aber nicht viel bedeutet: Die Kriminalstatistik erfasst nur Taten, die angezeigt wurden. Und gerade bei sexuellem Missbrauch, der sich meistens in der Familie oder in Institutionen abspielt, ist das Dunkelfeld enorm.

Anlass zur Besorgnis sieht Münch bei der Kinderpornografie. Weil die Opfer immer schlimmeren Handlungen ausgesetzt würden und immer jüngere Kinder betroffen seien. Die Ermittlungen seien "enorm komplex", sagte Münch am Dienstag in Berlin. Denn Nutzer von Kinderpornografie müssen in den einschlägigen Netzwerken erst einmal selbst verbotenes Material hochladen, ehe sie Zugang bekommen. Die Polizei kann daher in den Foren nicht verdeckt ermitteln, weil sie sich strafbar machen würde, wenn sie kinderpornografische Bilder hochlüde. Die Ermittler müssen erst mühsam digitalen Spuren nachgehen. Anders in den USA: Dort suchen Internetanbieter wie Google, Yahoo oder Facebook gezielt nach verdächtigem Material und übergeben dieses an eine zentrale Stelle, das National Center for Missing and Exploited Children. Diese leitet die Daten dann an die Behörden im In- und Ausland weiter - wovon am Ende auch Deutschland profitiert. Allein im vergangenen Jahr bekamen die deutschen Ermittler 35 000 Hinweise aus den USA.

Das Internet wird immer häufiger zum Tatort, etwa beim sogenannten Cyber-Grooming. Kinder werden über Chats, Online-Spiele oder Foren angesprochen und dazu verlockt, Bilder von sich zu posten oder sich mit einem Täter zu treffen. Ein weiteres neues Phänomen ist der sogenannte Webcam-Sextourismus: Dabei verfolgen Täter den Missbrauch von Kindern per Webcam und geben dabei Anweisungen. Die Taten finden meistens in Südostasien statt, die Täter sitzen zu Hause in Deutschland, so Holger Münch vom BKA.

Die Vorschläge, wie Gewalt an Kindern zu bekämpfen sei, sind seit Jahren dieselben. Die Mittel für Jugendämter, Justiz und Polizei müssten aufgestockt werden, sagt Rainer Becker, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Kinderhilfe. Dazu müssten Schulen und Kindertagesstätten besser gerüstet sein, denn in den meisten Fällen bekommen die Institutionen, die ein Kind besucht, von dem Missbrauch nichts mit. Und es müsse ein Schulfach Medienkompetenz von der ersten Klasse an geben, fordert Johannes-Wilhelm Rörig, der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs der Bundesregierung.

Anmerkung der Redaktion: In dem Artikel hieß es, die Fälle von Kinderpornografie hätten im Vergleich zu 2016 um 15 Prozent zugenommen. Nun hat die Deutsche Kinderhilfe ihre Angaben korrigiert, wir haben die Zahl deshalb herausgenommen.

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