Kriminalitätsstatistik 2017:"Gewalt unter Jugendlichen nimmt ab - aber das glaubt mir kein Mensch"

Messerstecherei in Arnstadt

Polizei am Tatort nach einer Messerstecherei im thüringischen Arnstadt (Archivbild)

(Foto: imago/Bild13)

Der Kriminalitätsstatistik zufolge sinkt die Zahl der Straftaten auf ein Rekordtief, trotzdem fühlen sich die Deutschen unsicher. Kriminologe Bernd-Rüdeger Sonnen weiß aus eigener Erfahrung, dass Zahlen nicht gegen Ängste helfen.

Interview von Antonie Rietzschel

Die Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik, die das Bundesinnenministerium an diesem Dienstag veröffentlicht hat (hier der Link zur pdf-Datei), zeigen: Die Zahl der Straftaten ist niedrig wie zuletzt vor 25 Jahren. Die Wahrscheinlichkeit, Opfer einer Straftat zu werden, ist gering - und doch hat jeder vierte Deutsche Angst davor. Wie damit umgehen? Und was sagt die Statistik überhaupt aus? Fragen an den Kriminologen Bernd-Rüdeger Sonnen, Professor für Strafrecht an der Universität Hamburg.

SZ: Herr Sonnen, wie sicher fühlen Sie sich in Deutschland?

Bernd-Rüdeger Sonnen: Ich fühle mich sehr sicher, aber natürlich habe ich auch Ängste. Einer meiner Studenten wurde mal nach einem Seminar brutal überfallen und verprügelt. Und in der Familie und im Freundeskreis gab es immer mal wieder Fälle, in denen die Kinder in der Schule abgezogen wurden. Das sind natürlich keine Bagatellen, aber solche Ereignisse sollten nicht dazu führen, dass ich so etwas gefühlsmäßig bewerte und überbetone.

Sie sagen sollten. Sie wurden selbst bedroht, nachdem Sie sich kritisch zur Polizei geäußert haben.

Ja, das stimmt: Unbekannte drohten, man könne die Reifen meines Autos anstechen oder einen Unfall provozieren. Ich habe mit einem Kollegen über meine Ängste gesprochen. Der kam dann ganz cool mit der Statistik und meinte: Die Wahrscheinlichkeit war noch nie so gering, Opfer einer Straftat zu werden.

Hat das geholfen?

Ehrlich gesagt: Nein. Ich war trotzdem sehr vorsichtig: Wenn ich vom Uni-Parkplatz losfuhr, habe ich auf die Autos hinter mir geachtet, in der Angst, dass mir jemand folgen könnte. Ich bin als Kriminologe eben auch nicht immer cool.

Laut aktueller Kriminalitätsstatistik ist die Zahl der Straftaten stark gesunken, die Aufklärungsquote steigt. Trotzdem fühlen sich die Deutschen nicht sicher. Warum sind wir so eine nervöse Republik?

Die wenigsten Deutschen haben eigene Erfahrungen gemacht, die Ängste entstehen am Stammtisch oder durch die Medien. Für eine Studie wurde die Berichterstattung über Kriminalität untersucht. In den meisten Fällen ging es um Tötungsdelikte. Sexualmorde wurden überproportional häufig dargestellt. Wenn ich ständig mit schwerster Kriminalität konfrontiert werde, entsteht ein verzerrtes Bild, das die Furcht steigert.

Wie wirkt sich das aus?

Wenn ein Sexualmord begangen wurde, können Sie Ihre Freunde bitten zu schätzen, wie hoch die Zahl solcher Delikte ist. Sie werden eine extrem hohe Zahl hören, obwohl sie zurückgehen. Ein weiteres Beispiel sind Wohnungseinbrüche. Die werden bei der Berichterstattung sehr sensibel wahrgenommen, weil es die private Sphäre des Einzelnen betrifft. Die Zahl der Wohnungseinbrüche ist aber 2017 spektakulär zurückgegangen. Ich persönlich versuche Freunden seit Jahren klarzumachen, dass die Gewalt unter Jugendlichen abnimmt - aber das glaubt mir kein Mensch. Vor allem wenn ein Video auftaucht, das einen brutalen Überfall zeigt.

Aktuelle Zahlen zeigen allerdings auch, dass die Gewalt an Schulen zunimmt. Widerspricht das nicht Ihrer These?

Unsere Gesellschaft ist gegenüber Gewalt viel sensibler geworden - so auch die Schulen. Sie zeigen mittlerweile alle Gewaltdelikte an. Das war früher nur bei Sachbeschädigung der Fall. Deswegen hat die Zahl zugenommen.

Derzeit wird wiederholt über Messerangriffe berichtet. Die "Bild"-Zeitung spricht sogar von einer "Messer-Epidemie". Weil nicht alle Länder diese Art der Angriffe aufführen, gibt es die Forderung, diese einheitlich zu erfassen. Wie sinnvoll ist das?

Zuletzt hat Nordrhein-Westfalen beschlossen, eine entsprechende Statistik einzuführen. Das soll der Bevölkerung zeigen, dass der Staat schnell reagiert. Ich halte das für Quatsch. In der Vergangenheit war der Baseballschläger beliebt, jetzt ist es das Messer - was vielleicht auch etwas mit Nachahmung zu tun hat. Die Frage ist doch, was aus solch einer Sondererfassung resultiert. Das Messer gilt schon jetzt als gefährliches Tatwerkzeug, ein Angriff damit wird als gefährliche Körperverletzung gewertet und hart bestraft.

In der Forderung nach einheitlicher Erfassung steckt auch der Wunsch, die Realität abzubilden. Aber können Erhebungen wie die Kriminalstatistik das überhaupt leisten?

Wir haben kein wirklichkeitsgetreues Bild von Kriminalität. Die Statistik ist unsauber, denn sie zeigt lediglich Verdachtsfälle. Das heißt, jemand erstattet Anzeige, die Polizei fasst einen möglichen Täter. Aber darüber richten, ob die Person schuldig ist oder nicht, können nur die Gerichte. Wenn also die Ermittler den Tatverdacht höher hängen - also gefährliche, statt fahrlässige Körperverletzung -, landet das in der Statistik. Auch wenn das Gericht die Person im Extremfall freigesprochen hat.

Rechte missbrauchen die Zahlen, um gegen Migranten und Flüchtlinge zu hetzen, sie seien krimineller als Deutsche. Lässt sich dieser Zusammenhang herstellen?

Ein weiteres Manko der Kriminalstatistik besteht darin, das sie deutsche und nichtdeutsche Täter unterscheidet. Auch das verzerrt. Denn es gibt Deutsche, die nicht hier geboren wurden. Es gibt Nichtdeutsche, die hier geboren wurden. Hinzu kommt das Problem der Altersstruktur: Ich stelle eine recht junge Gruppe, die erst kurz hier ist, der durchschnittlich älteren, alteingesessenen deutschen Gesamtbevölkerung gegenüber. Wichtig ist auch der Hinweis, dass sich die meisten von Flüchtlingen begangenen Straftaten gegen andere Geflüchtete richten.

Müsste die Kriminalstatistik reformiert werden, um Missbrauch einzudämmen?

Aus meiner Sicht ist Aufklärung wichtiger. Welche Schlüsse können wir aus den Zahlen ziehen und welche nicht? Und was ist die Konsequenz? Grenze ich Flüchtlinge und Migranten noch stärker aus - oder schaue ich mir die Hintergründe der Taten an? Durch Untersuchungen über Jugendkriminalität wissen wir, dass sich die Risikofaktoren bei Deutschen und Nichtdeutschen kaum unterscheiden. Da spielt Perspektivlosigkeit eine Rolle, Vermittlung von Werten, der Wunsch Stärke zu zeigen. Bei Flüchtlingen kommt vielleicht noch hinzu, dass sie hier erst Fuß fassen müssen, sich nicht gewollt fühlen. Darauf muss man reagieren. Gesetzesverschärfungen werden langfristig nicht dazu führen, dass Kriminalität eingedämmt wird.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: