Süddeutsche Zeitung

Kriminalität in Vancouver:"Kanadas Sizilien"

In Vancouver wächst vor den Olympischen Winterspielen 2010 die Sorge um die Sicherheit: Schießereien erschüttern die Stadt - und das kanadische Image.

Bernadette Calonego, Vancouver

Ein Kugelhagel durchsiebte das Auto von Nicole Marie Alemy, als sie mit ihrem vierjährigen Sohn durch ein ruhiges Viertel in Vancouvers Vorstadt Surrey fuhr. Die 23-jährige Mutter brach tot über dem Lenkrad zusammen. Ihr schreiendes Kind überlebte auf dem Hintersitz, weil ein mutiger Lastwagenfahrer in den schlingernden Unglückswagen sprang und ihn zum Halten brachte, als das Auto in den Gegenverkehr rollte. Nicole Alemy ist das jüngste Opfer der eskalierenden Bandenkriege in der kanadischen Hafenstadt Vancouver, einer Drehscheibe für den internationalen Drogenhandel.

Vancouver ist zusammen mit Whistler Austragungsort der Olympischen Winterspiele im Februar 2010. Eine von Bandenkriegen erschütterte Stadt - das ist nicht das Bild, das Vancouver der Welt präsentieren will. In TV-Werbespots bezeichnet sich British Columbia als "der beste Ort der Welt". Aber gewalttätige Gruppen, die über erstaunlich viele Waffen verfügen, terrorisieren zunehmend die Region. Allein in den ersten 16 Tagen des Monats Februar fanden zwölf Schießereien statt, die für sieben Menschen tödlich endeten. Der kanadische Sicherheitsminister Peter Van Loan erklärte, Vancouver und die Provinz British Columbia seien "das Zentrum der größten Anzahl von Gruppen des organisierten Verbrechens".

In der Westküstenmetropole herrscht schon jetzt Alarmbereitschaft. Die Kosten für die Sicherheit von Athleten, Politikern und Sportfunktionären werden derzeit auf 570 Millionen Euro veranschlagt. Das ist fünfmal mehr als das ursprüngliche Budget. Die nationale Polizei RCMP arbeitet während der Spiele sogar mit den USA im Rahmen des nordamerikanischen Luftabwehrabkommens Norad zusammen. Kanadische Zeitungen berichteten, dass die Behörden von British Columbia die Amerikaner bitten könnten, im kommenden Februar mit einem unbemannten US-Überwachungsflugzeug die gemeinsame Grenze zu beobachten.

Der kanadische Premierminister Stephen Harper begab sich vergangene Woche eigens nach Vancouver, um dort schärfere Gesetze im Kampf gegen die kriminellen Banden anzukündigen. British Columbia will auch 168 neue Polizeibeamte und zehn zusätzliche Staatsanwälte einsetzen. Mehr als 300 neue Gefängniszellen sollen gebaut werden. In der Vergangenheit waren Gerichte kritisiert worden, da wiederholt verdächtige Drogengangster gegen Kaution freigelassen wurden - mit der Begründung, dass die Gefängnisse in der Region alle überfüllt seien.

"Immer mehr Bandenmitglieder schützen sich mit gepanzerten Fahrzeugen und schusssicheren Westen und setzen diese Mittel ein, um ihren Krieg auf die Straßen zu tragen", sagte der Premierminister von British Columbia, Gordon Campbell. Den Gangs geht es um die Dominanz im Drogenhandel. Am Tag, als Regierungschef Harper in Vancouver weilte, legte die Polizei in der Hauptstadt Victoria die Ausbeute ihrer jüngsten Drogenrazzia vor: Kokain, Heroin und Ecstasypillen im Wert von über 400000 Euro. Laut einem Polizeibericht aus dem Jahr 2006 bringen beispielsweise indokanadische Gangs Heroin aus Afghanistan via Indien nach Kanada, von wo es in die ganze Welt geschmuggelt wird. Kanada sei heute zudem ein großer Exporteur der Designerdroge Methamphetamin, so der Bericht.

Die Gangster werden dreister

Immer wieder fordert der Bandenkrieg in Vancouver das Leben unschuldiger Menschen. Im vergangenen Mai wurde ein Heizungstechniker erschossen, der zufällig in einer Wohnung einen Gasofen reparierte. Schießereien fanden auch im belebten Zentrum von Vancouver statt oder vor Häusern in Wohnvierteln. "Diese Kriminellen greifen zu nie dagewesenen Gewaltmitteln an Orten, wo die Öffentlichkeit in extreme Gefahr gerät", sagte Gary Bass, Vize-Kommissar der nationalen Polizei RCMP in Vancouver.

Die linke Oppositionspartei NDP kritisierte die liberale Provinzregierung, sie habe das Problem zu lange ignoriert. Als im Oktober 2007 sechs Menschen in einem Hochhaus in Surrey bei Vancouver von einer Verbrecherbande umgebracht wurden, griff die Justiz trotz vieler Versprechen nicht durch. Bis heute ist niemand verhaftet worden. Dafür sind die Gangs dreister geworden und haben viele Jugendliche rekrutiert. Vancouver kann im Vorfeld der Olympischen Spiele seine Probleme nicht mehr verstecken.

Das olympische Dorf am Meeresarm von False Creek ist nur einige Straßenzüge von der berüchtigten Downtown Eastside entfernt. In dem Rotlichtbezirk herrschen Prostitution, Drogen und Gewalt. Hierher sollte sich nachts kein Besucher der Spiele verirren. Hunderte Obdachlose leben auf den Straßen, für einige von ihnen wird es bis zum Februar Unterkünfte geben. Die Bevölkerung, die sich sonst so stolz auf die Lebensqualität ihrer schönen Stadt zeigt, ist tief verunsichert. In Blogs haben die Einwohner ihrer Stadt einen wenig schmeichelhaften Namen gegeben: "Kanadas Sizilien".

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SZ vom 05.03.2009/grc
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