Süddeutsche Zeitung

Kriminalität:In Großbritannien steigt die Zahl der Säureattacken

  • Im vergangenen Jahr wurden allein in London 454 Menschen mit Säure attackiert und verletzt.
  • Das Problem ist mittlerweile so gravierend, dass die Innenministerin den Verkauf ätzender Substanzen an unter 18-Jährige verbieten lassen will.
  • Anders als in Ländern Südostasiens sind hier vor allem Männer von den Übergriffen betroffen.

Von Cathrin Kahlweit, London

Die jungen Frauen meldeten sich bei der Polizei, sie meldeten sich auch bei der Universitätsleitung. Sie würden bedroht, klagten sie wieder und wieder, eine Gruppe männlicher Kommilitonen habe angekündigt, sie mit Säure zu übergießen. Polizei und Rektorat an der berühmten St.-Andrews-Universität in Schottland sagten, ihnen seien die Hände gebunden, schließlich habe es ja noch kein Verbrechen gegeben. Die beiden Frauen hätten sich daraufhin panisch in ihren Zimmern verschanzt, berichten zwei Boulevardzeitungen, bis einer der Mobber suspendiert und fünf weitere von ihrer Universität mit Disziplinarstrafen belegt wurden. Die zwei Frauen hatten Glück im Unglück: Es war bei der Drohung geblieben.

Offenbar waren die Studenten von Meldungen angeregt worden, welche die britische Polizei mit wachsender Besorgnis und in steigender Frequenz herausgibt: Säure-Attacken sind, man kann es nicht anders sagen, in Großbritannien in Mode. In den vergangenen zwei Jahren hat sich die Zahl der Attacken mit ätzenden Substanzen - oftmals zusammengeschüttete Mixturen aus Putzmitteln, Ofenreinigern, Beizmitteln und was man sonst in Apotheken oder Baumärkten kaufen kann - im Königreich verdoppelt. Zudem ist es ein Leichtes, Schwefelsäure in großen Mengen in Online-Shops zu bestellen.

2016 wurden allein in London 454 dieser perfiden Überfälle gezählt. Meist ereignen sie sich in Ost-London, meist trifft es Opfer von Auseinandersetzungen in Bandenkriegen, immer häufiger aber auch Opfer von Diebstählen. Die britische Innenministerin, Amber Rudd, hat jetzt auf dem Parteitag der Tories in Manchester angekündigt, sie werde ein Gesetz vorantreiben, das den Verkauf ätzender Substanzen an unter 18-Jährige verbieten soll.

Die letzte Meldung aus Stratford im armen Osten der Hauptstadt stammt von Mitte September, als ein 15-Jähriger während eines Streits Säure in die Gesichter von sechs Umstehenden sprayte, er wurde später festgenommen. Eines der Opfer, ein Obdachloser, erlitt schwere Verletzungen an den Augen. Fast wöchentlich schocken Diebe in der Hauptstadt mittlerweile Passanten mit Säure-Attacken, und während diese verzweifelt versuchen, sich zu schützen, werden ihnen Brieftaschen oder Mopeds gestohlen.

Einmal wurde Säure in das Gesicht eines Autofahrer gesprayt, der bei offenem Fenster arglos wartend an einer Ampel stand; ein anderes Mal traf es einen Fahrradkurier beim Ausliefern von Essen, dem Jugendliche seinen Roller klauen wollten. Ein 18-Jähriger stand mit seinem Rad vor einer Schule in Leyton, als eine Gruppe Mopedfahrer ihn angriff, ihn mit Schwefelsäure überschüttete und ihn schreiend liegen ließ. Die Folgen: zerstörte Haut, tiefe Narben, entstellte Gesichter, lebenslange Pein.

Eine Form der Gewalt, die bisher vor allem Frauen traf

Säure-Attacken sind eine Form der Verstümmelung und Demütigung, die man bisher vor allem aus Südostasien kannte. Das Schicksal von jungen Frauen, die heiratswillige Männer abweisen und dann von ihnen dadurch "bestraft" werden, dass ihr Körper, ihr Gesicht für immer zerstört wird, ist Legion. Das Problem in Großbritannien betreffe hingegen vorwiegend gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Männern, die von Messern und - schwerer zu besorgenden - Pistolen auf ätzende Flüssigkeiten umgestiegen seien, sagte ein Polizeibeamter aus dem Bezirk Hackney dem US-Fernsehsender CNN.

Laut dem Beamten, der den Szene-Slang von "Gesichts-Schmelzern" aufgreift, geschehen die meisten Angriffe auf offener Straße, scheinbar ansatzlos, oft würden auch wahllos Passanten angegriffen. Die Londoner Polizei hat begonnen, ihre Beamten auch für diese relativ neue Form der Gewalt zu trainieren, moniert aber, dass vor allem die Strafen für Säure-Attacken zu niedrig seien.

"Säure ist mittlerweile das Mittel der Wahl", sagt etwa der Kriminologe Simon Harding, weil man für eine Messerattacke, die als versuchter Mord gewertet werde, im Zweifel weit länger hinter Gitter kommt als für "Körperverletzung mit einer ätzenden Substanz". Die körperlichen Folgen könnten allerdings bei Säure langfristig viel schwerer sein.

Sozialarbeiter in London beklagen, dass die zunehmende Bandenkriminalität, die auch immer jüngere Kinder in ihren Bann ziehe, unter anderem auf die massiven Einsparungen in der Jugendfürsorge und in Jugendprogrammen zurückzuführen sei. Eine Untersuchung in allen 32 Londoner Bezirken zeigt, dass die Ausgaben für Jugendliche in Problemvierteln in den vergangenen fünf Jahren um ein Drittel reduziert wurden, in einigen Stadtvierteln sogar halbiert. Immer mehr Jugendliche würden sich Banden anschließen, rauben, dealen. Säure-Attacken seien dabei ein einfacher Weg, "Dominanz auszuüben, Macht und Kontrolle, und vor allem: Menschen in Angst und Panik zu versetzen".

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SZ vom 06.10.2017/eca
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