Süddeutsche Zeitung

Cold Case:Wie ein Film

  • Am 16. Oktober 1984 wird die Leiche des vierjährigen Grégory Villemin in einem Bach nahe seines Elternhauses gefunden.
  • Nach dem Mord entfaltet sich einer der größten Justizskandale Frankreichs.
  • Nun veröffentlichte Netflix die Doku-Serie "Wer hat den kleinen Grégory getötet?" und die Eltern von Grégory melden sich zu Wort.

Von Nadia Pantel, Paris

Es ist eine Geschichte, die finster beginnt, nur um dann immer düsterer zu werden. Vor mehr als 35 Jahren, am 16. Oktober 1984, wird die Leiche des vierjährigen Grégory Villemin in einem Bach gefunden, nicht weit von seinem Elternhaus. Der Junge ist ertrunken. Nicht durch einen Unfall, sondern weil sein Mörder es wollte. An Händen und Füßen ist das Kind gefesselt. Der Tatort ist ein beschauliches Tal in den Vogesen, im Osten Frankreichs - über Monate wird die Region zu einer Art Wallfahrtsort für Pariser Sensationsjournalisten.

Archivbilder aus der Zeit wirken, als hätten sich Drehbuchautoren mit Hang zur grotesken Überzeichnung Plot, Szenerie und Protagonisten ausgedacht. Und alles, was an sich schon schräg ist, wird in den Berichten der Journalisten noch schräger. Die erweiterte Familie der Eltern des Kindes lässt sich nur unwillig befragen - sofort schreiben die Zeitungen von einem Clan. Verfolgt man "die Affäre Grégory" zurück bis in die 80er-Jahre, liest man Geschichten von Neid und von sozialem Aufstieg, das Ehepaar Villemin hatte es, im Gegensatz zum Rest der Familie, zu bescheidenem Wohlstand gebracht.

Der Mord fesselt auch deshalb Leser und Fernsehzuschauer, weil er in einem Setting spielt, das zu verschwinden scheint und das dem Pariser Publikum sehr fern ist. Opfer und Tatverdächtige kommen aus dem Arbeitermilieu in einer abgelegenen Region, die Hauptstadtpresse berichtet wie über ein weit entferntes Land. Von heute aus betrachtet, entfaltet sich nach diesem Mord einer der größten Justizskandale Frankreichs. Der Fall blieb und bleibt ungelöst.

Eine Netflix-Dokuserie tritt alles wieder los: Anschuldigungen, Diskussionen, Rätselraten

Wie sehr er die Menschen immer noch beschäftigt, kann man in diesem Winter eindrucksvoll verfolgen. Im November veröffentlichte Netflix die Doku-Serie "Wer hat den kleinen Grégory getötet?" Direkt nach Erscheinen meldeten sich die Eltern von Grégory, die jahrelang geschwiegen hatten, über ihre Anwältin wieder zu Wort. Sie seien "schockiert von den Aussagen des Kommissars", der damals ermittelte und heute vor laufenden Kameras erzählt, dass Christine Villemin, Grégorys Mutter, zu gut angezogen gewesen sei, um für ihn ein glaubwürdiges Opfer zu sein. "Unter anderen Umständen", so der Kommissar, "hätte man ihr den Hof machen wollen."

Auch die Witwe des damals verantwortlichen Richters gibt nun empörte Interviews, die neue Serie würde "gefährlichen Hass" heraufbeschwören und über ihren Mann nur "Teile der Wahrheit" erzählen. Auf Facebook beginnen Zehntausende, Theorien auszutauschen, neue Gruppen für Hobbyermittler werden gegründet, ältere werden auf einmal überrannt. Eine neue, digitale Generation Franzosen sucht den Mörder des kleinen Grégory.

Auch auf juristischer Ebene ist der Fall nicht abgeschlossen

Auf seine wichtigsten Eckdaten reduziert, klingt der Fall so: Über Jahre erhält das Ehepaar Villemin anonyme Anrufe und Briefe und wird bedroht. Der Täter oder die Täterin kennt zu viele Details des Lebens seiner Opfer, um ein Unbekannter zu sein. Der vierjährige Sohn des Ehepaars wird getötet und sofort kommt wieder Post vom anonymen Schreiber, der sich seiner "Rache" rühmt. Der Cousin des Vaters des getöteten Jungen wird der Tat verdächtigt.

Eine 15-jährige Verwandte sagt aus, mit dabei gewesen zu sein, als der Cousin das Kind vor dessen Haus entführte. Einen Tag später zieht sie ihre Aussage wieder zurück. Der trauernde Vater aber glaubt weiterhin an die Schuld des Cousins. Er erschießt ihn. Zu diesem Zeitpunkt haben sich Justiz und Polizei eine neue Tatverdächtige gesucht: die Mutter des toten Kindes, Christine Villemin. Eine mediale Hexenjagd beginnt. Villemins Schuld wird nie bewiesen.

2004 wird der französische Staat dazu verurteilt, 70 000 Euro an das Ehepaar Villemin zu zahlen, als Entschädigung für die "schweren Fehler" in Ermittlungen und Verfahren. Im Jahr 2017 schließlich der vorerst letzte Todesfall in der Affäre Grégory: Jean-Michel Lambert, der als Richter in den ersten drei Jahren der Ermittlungen für den Fall zuständig war, nimmt sich das Leben. In Frankreich hieß er nur noch "der kleine Richter", weil er Fehler an Fehler reihte. In seinem Abschiedsbrief nimmt Lambert noch einmal auf die Affäre Grégory Bezug, er glaubt weiterhin an die Schuld der Mutter.

Auch auf juristischer Ebene ist der Fall übrigens nicht abgeschlossen. Im Januar wird das Pariser Berufungsgericht darüber entscheiden, ob eine der zentralen Zeugenaussagen wegen Verfahrensfehlern aus den Akten getilgt werden muss oder nicht.

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Quelle:
SZ vom 27.12.2019
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