Konflikte in Ukraine und Nahem Osten:Europas Gespenster kehren zurück

Gemeinsame Sanktionen gegen Russlands Präsidenten Putin hat die EU bereits verhängt, im Nahen Osten steht ein solcher Schritt noch aus. Die Europäer müssen Antworten auf neue Gefahren finden - und lernen, in einer zunehmend unsicheren Nachbarschaft zu leben.

Gastbeitrag von Joschka Fischer

Wenn es ein historisches Datum gibt, das noch heute, exakt ein Jahrhundert später, die meisten Europäer frösteln lässt, dann ist es der Beginn des Ersten Weltkriegs, jener europäischen Urkatastrophe, die in diesem August vor 100 Jahren ihren Anfang nahm.

Heute, zwei Weltkriege und einem Kalten Krieg später, scheinen die Gespenster einer entfesselten Machtpolitik Europa wieder einzuholen. Der zentrale Unterschied zum Juli vor hundert Jahren besteht darin, dass es sich bei den machtpolitischen Konflikten nicht mehr um Konflikte innerhalb Europas handelt. In Europa stehen sich hundert Jahre später keine bis an die Zähne bewaffneten Armeen mehr gegenüber. Die Gefahren und Bedrohungen von heute finden an Europas Rändern statt. Sie bedrohen die europäische Gemeinschaft von außen, aus seiner regionalen Nachbarschaft: das Russland Putins möchte die Grenzen in Osteuropa mit Gewalt verändern und so seinen erneuten Aufstieg zur Weltmacht absichern. Und dann droht der gesamte Nahe Osten, dessen Staatengrenzen zu weiten Teilen das Ergebnis des Ersten Weltkriegs waren, dieser Tage in Syrien, im Irak und in Gaza im Chaos und in Gewalt zu versinken.

Das Europa der EU, hat sich aufgrund der blutigen Geschichte des Kontinents für Gewaltverzicht, die Unverletzlichkeit der Grenzen, die Herrschaft des Rechts und der Demokratie entschieden, für Kooperation, ja Integration statt kriegerischer Konfrontation, für wirtschaftliche Entwicklung statt Machtpolitik, für Frieden statt Krieg. Nun aber wird dieses Europa der EU durch die Rückkehr der Machtpolitik an seinen Grenzen und in seiner unmittelbaren Nachbarschaft in der Zeit zurückgeworfen. Es wird machtpolitisch erneut herausgefordert.

Zur Person

Joschka Fischer, 66, war von 1998 bis 2005 deutscher Außenminister und Vizekanzler - und beinahe 20 Jahre lang führender Politiker der Grünen. Copyright: Project Syndicate.

Der postmodern verfasste alte Kontinent Europa muss mit einem bedrohlichen Rückfall in die machtpolitische Moderne fertigwerden, ohne daran Schaden in seiner Sicherheit und in seinem lang anhaltenden Friedenszustand zu nehmen. Dies wird nach all den Jahrzehnten der machtpolitischen Entwöhnung, vor allem seit dem Epochenbruch von 1990, alles andere als einfach zu bewerkstelligen sein. Es wird auch deshalb schwierig werden, weil dieses gemeinsame Europa weder seine fertige, politisch integrierte Gestalt erreicht hat noch gar für solche machtpolitischen Herausforderungen konstruiert worden ist. Deswegen befindet sich das Europa der EU im Juli 2014 in einem sichtbaren Dilemma: Die alten Nationalstaaten sind dieser machtpolitischen Herausforderung nicht mehr gewachsen, weil zu klein, zu schwach, zu machtlos in der Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts. Und die EU ist der Herausforderung noch nicht gewachsen, weil sie noch nicht im notwendigen Maß eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik entwickelt hat.

Andererseits spüren die EU-Europäer, dass Europa und der Westen Putin nicht einfach so weitermachen lassen dürfen wie bisher. Zu viel steht im Osten der Ukraine auf dem Spiel, nämlich die Ordnung und der Frieden des gesamten Kontinents. Spätestens seit dem Abschuss der Passagiermaschine der malaysischen Airline über dem ostukrainischen Rebellengebiet ist das klar: Die überwiegend europäischen Passagiere des Fluges MH17 haben für diese Erkenntnis mit ihrem Leben bezahlen müssen.

Die Gewalt droht in die EU exportiert zu werden

Man kann sich in der Geschichte das Timing in der Regel nicht aussuchen. Die entscheidende Frage ist daher die nach den Konsequenzen, die aus eingetretenen Ereignissen gezogen werden. Es hat elendiglich lange gedauert, bis die Europäer erkannt haben, dass all das Wladimir Putin entgegengebrachte Vertrauen und das Verständnis gegenüber der Gewaltpolitik des russischen Präsidenten, das manchmal die Grenzen der Selbstachtung überschritt, zu nichts anderem führte als zu einer weiteren Eskalation und Ausdehnung der Krise. Erst dann war die EU dazu bereit, härtere Wirtschaftssanktionen gegen Russland zu verhängen.

Der Beschluss über die gemeinsamen Sanktionen ist ein Datum, das für die weitere Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik nicht unterschätzt werden sollte. Nachdem die EU endlich den ersten Schritt - wirksame Sanktionen - auf dem Weg gemacht hat, muss jetzt so schnell wie möglich der zweite Schritt erfolgen: die europäische Energieunion. Die EU muss so weit wie möglich unabhängig von russischen Energielieferungen werden.

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Joschka Fischer, 67, war von 1998 bis 2005 Bundesaußenminister und Vizekanzler. Copyright: Project Syndicate, 2016.

(Foto: Adam Warzawa/dpa)

Keine kurzfristigen Lösungen

Im Nahen Osten stehen solche gemeinsamen Schritte noch aus. Sie werden sehr viel schwieriger zu organisieren sein, da sich innerhalb der EU ein propalästinensisches und ein proisraelisches Lager gegenüberstehen und in der Regel blockieren. Zudem sind die Konflikte im Nahen Osten wesentlich komplexer als die Auseinandersetzung im Osten der Ukraine. Im Irak und Syrien toben Bürgerkriege, Libanon ist instabil, Israel und Palästina finden keinen Frieden. Auch Ägypten und Libyen sind zunehmend zerrissene Staaten - niemand weiß, wie lange Jordanien, die arabische Halbinsel und die Golfregion einigermaßen stabil bleiben. Das iranische Atomprogramm macht die Krise noch komplexer, ebenso der religiös aufgeladene Hegemonialkonflikt zwischen dem schiitischen Iran und dem sunnitischen Saudi-Arabien um die Vorherrschaft in der Region. Lösungen für diese ineinander verwobenen Konflikte sind kaum absehbar.

Es wird in Europas südöstlicher Nachbarschaft keine kurzfristigen Lösungen geben. Wahrscheinlicher ist, dass die Konflikte dort weiter eskalieren; zu befürchten ist, dass eine ganze Region im Chaos zu versinken droht. Wir stehen vor Jahren der Gewalt. Auch für die europäische Union bringen sie große Risiken mit sich. Ein Teil des nahöstlichen Konfliktpotenzials droht nach Europa exportiert zu werden, der direkten Nachbarregion des Nahen Ostens. Die EU wird sich, ob sie will oder nicht, diesen Konflikten nicht entziehen können. Es wird auch im Nahen Osten über ihre innere und äußere Sicherheit mit entschieden werden.

Die Europäer werden also lernen müssen, mit einer zunehmend unsicher werdenden Nachbarschaft zu leben. Sie werden kluge und am langfristigen Erfolg orientierte Antworten auf diese Entwicklung finden müssen. Diese Antworten wird kein einziger europäischer Nationalstaat mehr alleine geben können - sie müssen von einer geeinten EU kommen. Deshalb müssen die Staaten der Union dringend die Integration vertiefen; ihre gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik bräuchte nun einen neuen Start. Davon allerdings sind die Europäer leider immer noch weit entfernt.

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