Kommentar:Singapurer Roulette

Zum Tod der Siamesischen Zwillinge: Ärzte müssen allzu riskante Therapien verweigern.

Holger Wormer

(SZ vom 9.7.2003) - Beim russischen Roulette liegen die Chancen zu überleben bei fünf zu eins: In die Trommel eines Revolvers wird eine Kugel geladen, fünf Kammern bleiben frei. Die statistische Chance, dass am Kopf zusammengewachsene Zwillinge eine Trennung ohne schwere Schäden überleben, liegt umgekehrt bei eins zu neun - das entspricht einem Magazin mit neun Kugeln und nur einer leeren Kammer, die das Überleben bedeutet.

Im Fall der Zwillinge Ladan und Laleh dürften die Chancen trotz aller medizinischen Fortschritte sogar noch schlechter gewesen sein. Denn niemals zuvor waren Erwachsene erfolgreich getrennt worden. Auch die Ärzte in Singapur räumten ein hohes Risiko ein. Wenn es aber nun der Wille der Zwillinge ist, so fragten sie, dürfen wir eine Behandlung deswegen verweigern?

Sie dürfen. Mehr noch: Sie hätten es sogar tun müssen, wenn man dem Urteil anderer Experten folgt, die die riskante Operation zuvor abgelehnt hatten. In jedem Fall gehört es zum Alltag in Arztpraxen und Kliniken, dass Mediziner auch Behandlungswünsche abschlagen müssen - weil sie keinen Nutzen für den Patienten bringen oder ihm sogar schaden.

Im Fall Singapur ging es den Ärzten bestenfalls in zweiter Linie um das Wohl ihrer Patienten. Das wichtigste Motiv war weniger altruistisch: Die Mediziner wollten Medizingeschichte schreiben. Der Einsatz für die medienwirksame Show war das Leben der Zwillinge, das Risiko für die Ärzte selbst war gering. Wäre die Operation gelungen, hätten sie sich den gewünschten Platz in den Annalen der Medizin gesichert.

Jetzt, wo sie gescheitert ist, bleibt ihnen immer noch der Ruf von Helden, die alles versucht haben und um das Leben der beiden kämpften. Dass sie deren Leben erst aktiv gefährdeten, wird dabei leicht vergessen. Kann man die Operation aber vielleicht ohnehin als eine besondere Inszenierung aktiver Sterbehilfe ansehen? Auf den ersten Blick gibt es zumindest gewisse Parallelen.

Ähnlich wie etwa ein Krebspatient im Endstadium befanden sich Ladan und Laleh in einer offenbar ausweglosen Situation. Und sie hatten den sehnsüchtigen Wunsch, diesen für sie unerträglichen Zustand zu beenden, koste es, was es wolle.

Doch der Vergleich hinkt. Trotz leichter Einschränkungen der Gesundheit war das Leben der Zwillinge vor der Operation nicht akut bedroht. Ebenso wenig litten sie unter unerträglichen Schmerzen, einem wichtigen Punkt in der Sterbehilfedebatte. Und wenngleich die Lebenssituation siamesischer Zwillinge für den Außenstehenden kaum vorstellbar ist, so führen doch viele dieser Menschen ein - aus ihrer Sicht - weitgehend normales Leben.

Einige hatten ihre Situation so stark als persönliche Normalität akzeptiert, dass sie sich in der Vergangenheit sogar weigerten, sich trennen zu lassen, als einer von beiden schwer erkrankte.

Möglicherweise wäre es auch im Fall Ladan und Laleh die wichtigste Aufgabe der Ärzte gewesen, die beiden von dem Vorhaben abzubringen und dazu zu bringen, ihre Lebenssituation anzunehmen. Und vielleicht hätten sie ihnen auch noch wesentlich drastischer vermitteln können, wie verschwindend gering die Aussichten auf Erfolg tatsächlich waren. Das wäre weniger medienwirksam gewesen, dafür aber verantwortungsvolles ärztliches Handeln.

Statt dessen hat man es nun mit einem Fall ärztlicher Selbstüberschätzung zu tun, der die Medizin noch dazu keinen Schritt weiter bringt.

Sensationelle Erfolge sind selten in diesem Fach. Meist sind es kleine Schritte, mit denen Forscher und Ärzte vorankommen, wenig spektakulär und oft kaum bemerkt von der Öffentlichkeit. Die tägliche Leistung der Mediziner findet im Stillen statt, in unzähligen Kliniken, wo Ärzte oft unter schlechtesten Bedingungen arbeiten.

Ihnen muss es nach dem tragischen Ausgang der Operation erst recht absurd erscheinen, dass ein luxuriös ausgestattetes Team von gut zwei Dutzend Spezialisten und hundert Assistenten zu einem äußerst fragwürdigen Unternehmen nach Singapur aufbrach.

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