Kommentar:Der bebende Planet

Von Wolfgang Roth

Das Undenkbare tritt immer wieder ein, und immer wieder gibt es ein erstes Mal: Seit Menschengedenken hat man eine solche Flutwelle in einer Weltregion nicht erlebt. Das Katastrophengebiet reicht von Thailand im Osten bis zu den Malediven im Westen, selbst an den afrikanischen Küsten waren die Auswirkungen des Bebens noch zu spüren. "Seit Menschengedenken" ist im österreichischen Galtür keine Lawine mit solcher Wucht niedergegangen wie im Winter 1999. An ein Elbe-Hochwasser wie im Sommer 2002 konnten sich die Ältesten nicht erinnern, und das ICE-Unglück bei Eschede erschütterte 1998 in Deutschland schwer den Glauben an die Perfektion der heimischen Technik.

Soweit die Technik im Spiel ist, erwächst aus dem Grauen auch Zuversicht für die Zukunft. Die Schwachstelle an einem Hochgeschwindigkeitszug kann beseitigt werden. Massive Sperren können die Lawinen stoppen, Deiche und Überflutungsflächen die Hochwassergefahr mindern - bis sich eine andere Gefahrenquelle auftut. Und wieder wird es ein erstes Mal geben. Der Unterschied zu den Tsunamis im Indischen Ozean liegt erstens im Ausmaß der Katastrophe - und es ist ein gewaltiger Unterschied. Zweitens kann keine noch so erfindungsreiche Technik verhindern, dass die Erde bebt, dass gewaltige Kräfte im Inneren des Globus arbeiten. Was bleibt, ist Schadensbegrenzung. Die Möglichkeiten, sein Leben und seine Habe zu retten, sind allerdings so ungleich verteilt wie die Gefahren von Erdbeben und Vulkanausbrüchen.

Nein, die Natur hat nicht zurückgeschlagen in Südostasien. Anders, als es die Heils- und Untergangsprediger dieser Welt weismachen wollen, hält sich die Natur streng an ihre Gesetze. Den Gegenpol zu den apokalyptischen Reitern bilden die Jünger des Alles-ist-machbar-Glaubens, meist in den hoch industrialisierten Ländern angesiedelt, oft in solchen Regionen, in denen ein stundenlanger Stromausfall oder ein Wald vernichtender Sturm schon die größte Katastrophe ist. Dort fragen sie sich, warum, um Gottes willen, im Indischen Ozean kein umfassendes Frühwarn-System existiert, das das Schlimmste verhindern würde. Solche Vorkehrungen gibt es, in unterschiedlicher Perfektion, im pazifischen Raum; am wirksamsten sind sie in Japan, einem wohlhabenden und dicht besiedelten Land.

Die Vorstellung, ein solches System ließe sich von Indien bis Java mitsamt all den kleinen und großen Inseln installieren, ist aber zur Zeit angesichts der politischen und ökonomischen Verhältnisse unrealistisch. Es ist nicht mit Sensoren im Ozean getan, es bräuchte ein dichtes, rasch reagierendes Informationsnetz und einen von oben nach unten reibungslos funktionierenden Zivilschutz. Das alles setzt Staaten voraus, in denen das internationale und nationale Kapital sich den Weg bis hin zu den Ärmsten der Armen sucht.

So ist die Welt aber nicht. Wäre sie anders, müssten nicht so viele Menschen an Malaria oder Cholera sterben; entsprechende Medikamente gibt es längst, oft würde sauberes Trinkwasser schon ausreichen. Wahrscheinlich ist aber, dass sich in den Touristikzentren, auf den Malediven oder auf Phuket, jetzt die Vorsorge erheblich verbessert. Andernfalls blieben die Touristen aus, und das wäre dann die nächste Katastrophe.

Warum, so fragen sich viele hierzulande, bleiben die Menschen an ihren gefährdeten Küsten, warum ziehen sie anderswo wieder in die Umgebung von Vulkanen? Sicher liegt dem auch Fatalismus zugrunde, die Erfahrung, dass Naturgewalten dort seit jeher wüten; auch ist der Tod an vielen Orten dieser Welt so im Alltag präsent wie im neuzeitlichen Europa nur in Kriegsepochen. Wahr ist aber auch, dass fruchtbare Erde nicht überall geschenkt wird. Wer ein Auskommen mit Fischerei und Tourismus hat, ist an den Ort gefesselt. Die Ballungszentren sind eine trügerische Alternative, am Ende stehen die Slums. Wenn sich die Menschen aber den Schleuserbanden anvertrauen und den Weg in eine bessere Welt antreten, hält sich die Gastfreundschaft überall und im Wortsinn in engen Grenzen.

Was bleibt, ist Anpassung an die unbeeinflussbaren Naturkatastrophen. Die wird nur mit internationaler Hilfe zu leisten sein, aber nicht nur mit ihr. Ein emporstrebendes, weitgehend demokratisches Schwellenland wie Indien ist sonst zu erstaunlichen Leistungen fähig. Ein besserer Schutz seiner Küsten muss diesem Staat mehr wert sein, mit Warnsystemen, Notfallplänen und solideren Behausungen.

Was diese Anpassung angeht, gibt es Parallelen zum Klimawandel. Zwar ist die von einem Seebeben verursachte Flutwelle schon in ihren Ursachen nicht mit dem allmählichen Anstieg des Meeresspiegels und den zunehmenden Taifunen vergleichbar. Jedoch ist jetzt schon klar, dass die internationale Politik den befürchteten Folgen der Klimaveränderung nicht mehr rechtzeitig und umfassend entgegenwirkt. Betroffen davon wären auch viele der Küsten, die soeben verwüstet wurden. Die Anpassung an die sich wandelnden Bedingungen ist unvollkommen, aber die einzige Chance. Ansonsten bleibt nur Demut vor den gewaltigen Kräften der Natur.

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