Kölner Stadtarchiv:Verantwortung für die Vergangenheit

Der Verlust von Kulturgut, so wie jetzt beim Archiv von Köln, beschädigt das kollektive Gedächtnis - und damit die Identität eines Landes.

Andrian Kreye

Die deutsche Nachkriegskultur ist eine Erinnerungskultur. Und kaum eine Nation hat ihre Erinnerungskultur so verinnerlicht und gemeistert wie die Bundesrepublik. Geisteswissenschaften, Literatur und Film kreisen seit 1945 vornehmlich um die großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts und um ihre Wurzeln in den Jahrhunderten davor. Das hat manchmal obsessive Züge.

Kölner Stadtarchiv: Das Historische Archiv in Köln war eines der größten kommunalen Archive Deutschlands. Hier lagerten Originaldokumente aus über 1000 Jahren - viele davon sind nun zerstört.

Das Historische Archiv in Köln war eines der größten kommunalen Archive Deutschlands. Hier lagerten Originaldokumente aus über 1000 Jahren - viele davon sind nun zerstört.

(Foto: Foto: AP)

Kein Wunder also, dass der Aufschrei über die Verluste unwiederbringlicher Kulturschätze und Dokumente der vergangenen eintausend Jahre in den Trümmern des Kölner Stadtarchivs schon kurz nach dem Einsturz des Gebäudes lauter war als die Sorge um die Vermissten oder der Streit um die politische Verantwortung.

Man darf die Verpflichtung einer Nation und eines Staates gegenüber der Vergangenheit und ihrer Relikte jedoch weder als Besessenheit noch als rein akademisches Interesse abtun. Die kollektive Erinnerung ist gleichbedeutend mit der Identität einer Kultur, eines Landes oder eines Volkes. Sie ist aber auch ein kulturelles Konstrukt.

Es ist Aufgabe der Geschichtswissenschaften, in diesem Konstrukt nach Wahrheiten zu suchen. Und die wenigen greifbaren Wahrheiten, die uns aus der Vergangenheit bleiben, sind die Artefakte und Dokumente. Es ist also die Pflicht des Staates, diese zu bewahren. Denn ohne Gemeinsamkeiten kann eine Nation und damit auch der Staat, der sie verwaltet, nicht existieren.

Die Auslöschung der kollektiven Erinnerung ist immer ein gewaltsamer Akt. Deswegen ist die Aufmerksamkeit so groß, wenn er sich vollzieht. Da gibt es die direkte Gewalt der mutwilligen Zerstörung. Beispiele gibt es genug. Die gezielte Zerstörung indigener Sprachen, wie die der amerikanischen Ureinwohner. Die Zwangsintegration tibetischer Religions- in die chinesische Staatskultur. Die Zerstörung der Buddha-Statuen von Bamian durch fundamentalistische Taliban.

Es gibt auch die Zerstörung aus gutem Willen, meist wenn es gilt, das Trauma einer Schreckensherrschaft zu überwinden. Dazu gehört die Bereinigung der kroatischen Sprache genauso wie der Sturz der Hussein-Standbilder im Irak und der Abbruch des Palastes der Republik in Berlin.

Oft ist es jedoch pure Schlamperei, die das kollektive Gedächtnis beschädigt. Dazu gehört die Apathie, mit der amerikanische Besatzungstruppen die Plünderung des irakischen Nationalmuseums geschehen ließen, oder die kaufmännische Blindheit des Auktionshauses Christie's, das mit der Sammlung Yves Saint-Laurents auch zwei Beutestücke aus dem chinesischen Sommerpalast versteigerte. Sollte sich der Verdacht erhärten, dass schon lange vor den Bauschäden am Kölner Stadtarchiv gewarnt wurde, gehört auch der Einsturz an der Severinstraße in diese Reihe.

Die Erinnerungskultur Deutschlands ist jedoch nicht nur der Vergangenheit geschuldet. Sie reicht auch in die Gegenwart und Zukunft. Da aber wird sie Teil einer globalen Sehnsucht nach Verwurzelung. Die Furcht vor der Auflösung von Völkern und Staaten ist Teil dieser Sehnsucht. Der Missbrauch kollektiver Erinnerung im ehemaligen Jugoslawien oder in den einstigen Provinzen der Sowjetunion ist die finstere Kehrseite davon. Die Auslöschung der Vergangenheit in Ländern wie Zimbabwe oder dem Kongo zeigt, wie Staaten daran zerbrechen können.

Für den Staat ist das Unglück von Köln eine schockartige Erinnerung an die Verantwortung gegenüber der Vergangenheit. Diese Verantwortung ist die Konservierung als Staatszweck. Die Hoffnung liegt in der Technik. Die Digitalisierung der Vergangenheit kann die Bewahrung der Artefakte zwar nicht ersetzen, aber sie ist eine Rückversicherung. Die Verpflichtung aber liegt in der Bereitschaft des Staates, die Verantwortung für die Vergangenheit ähnlich ernstzunehmen, wie die Verantwortung für Gegenwart und Zukunft.

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