Süddeutsche Zeitung

Kölner Stadtarchiv:Drei Mal Freispruch

Neuneinhalb Jahre nach dem Einsturz des Kölner Stadtarchivs, bei dem zwei junge Männer starben, endet der Prozess - mit einer Überraschung.

Von Jana Stegemann, Köln

Als Richter Michael Greve am Freitagmorgen um kurz nach zehn Uhr drei Freisprüche und einen Schuldspruch verkündet, sitzen Marvin P., 15, und Frank P.,50, nur Meter entfernt. Sie verloren beim Einsturz des Kölner Stadtarchivs vor fast zehn Jahren ihren Halbbruder beziehungsweise Stiefsohn: Der Bäckerlehrling Kevin K. ist einer der beiden jungen Männer, die in den Trümmern starben. "Das Urteil ist schon enttäuschend", sagt Marvin P. sehr leise und sehr vorsichtig über das, was er soeben gehört hat. Der 15-Jährige tritt im Verfahren als Nebenkläger auf. "Es ist ein Schlag ins Gesicht, wenn die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen werden", findet Frank P.

Bei dem Einsturz am 3. März 2009 hatten 36 Menschen ihre Wohnungen verloren, Dutzende waren nur mit Glück tödlichen Verletzungen entgangen. Archivmaterial von historisch unersetzlichem Wert war beschädigt und vernichtet worden. Es soll ein Sachschaden von 1,2 Milliarden Euro entstanden sein. Nicht zu vergessen, dass eine ganze Stadt an diesem Tag traumatisiert worden war.

Richter Greve hatte gleich nach der Urteilsverkündung hinterhergeschoben: Der Kammer sei klar, dass das Urteil "möglicherweise ein gewisses Unverständnis" in der Öffentlichkeit hervorrufen werde. Dies sei aber "nicht der Maßstab unserer Entscheidung". Gleichwohl sei das Gericht "froh und zufrieden, das Urteil verkünden zu können". Er lobte die Verteidiger, von denen keiner "versuchte, das Verfahren bewusst in die Länge zu ziehen".

Der seit Anfang des Jahres laufende Prozess stand unter Zeitdruck, weil die Taten im März 2019 verjähren. Insgesamt hatte die Staatsanwaltschaft sieben Angeklagten Baugefährdung und fahrlässige Tötung vorgeworfen. Fünf von ihnen waren vor Gericht erschienen, vier Männer und eine Frau. Ein Angeklagter verstarb in der Zwischenzeit. Der Hauptbeschuldigte, ein Polier, saß zu Verhandlungsbeginn noch auf der Anklagebank, war aber im Laufe des Prozesses erkrankt und nicht mehr verhandlungsfähig. Bauleiter Lars L., 48, Ingenieur Joachim G., 55, und Petra A., die als Ingenieurin der Kölner Verkehrsbetriebe (KVB) die Aufsicht über die Arbeiten führte, wurden freigesprochen. Ihnen habe "kein Pflichtverstoß" nachgewiesen werden können, sagte Richter Greve bei seiner dreistündigen Urteilsbegründung.

Alleinige Ursache des Unglücks sei eine Fehlstelle in einer Schlitzwand in 23 Meter Tiefe beim U-Bahn-Bau gewesen. "Wir sind uns sicher, dass niemand diese Folgen wollte", sagte Greve. Einzig KVB-Überwacher Manfred A. ,57, erhielt acht Monate auf Bewährung wegen fahrlässiger Tötung. Während sich der Richter an A. wandt, plärrte eine Kinderstimme durch den Gerichtssaal 210. A.s Handyklingelton, eingestellt auf maximale Lautstärke. Dann setzte A. an, dem Richter zu widersprechen. Greve aber wurde laut: "Nein, Sie hatten lange genug Zeit, was zu sagen." Das dem Mann zur Last gelegte Fehlverhalten wertete das Gericht als einen Fehler in einer langen Kette von Fehlern. "Es ist nicht zu verkennen, dass Sie von Mitarbeitern der Baufirma über die Beseitigung eines Hindernisses in 23 Meter Tiefe getäuscht wurden. Und ihr strafbares Verhalten liegt 13 Jahre zurück", sagte Greve.

Er sei froh, dass das 48 Prozesstage dauernde Verfahren eines "eindeutig und zweifelsfrei" geklärt habe: die Einsturzursache. Nun sei klar, dass Fehler bei Bauarbeiten für eine neue U-Bahn-Haltestelle unmittelbar vor dem Archivgebäude zu dem Unglück geführt hätten. Was man nicht eindeutig habe feststellen können, sei aber, wer dies im Einzelnen zu verantworten habe. Für Marvin und Frank P. ist das am schlimmsten.

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Quelle:
SZ vom 13.10.2018
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