Übergriffe an Silvester:Nach Köln ist die Debatte vergiftet

Nach Übergriffen vor dem Hbf in Köln

Nach den Übergriffen in Köln ist der Schaden groß. Wesentliche Fragen bleiben auf der Strecke.

(Foto: dpa)

Seit den Vorfällen in der Silvesternacht bestimmen Vorurteile und Hass den Diskurs. Merkt denn keiner, wie viel Angst dahintersteckt?

Kommentar von Matthias Drobinski

Nach der furchtbaren Silvesternacht von Köln ist eine furchtbare Wirrnis über die öffentliche Debatte in Deutschland gekommen, wie es sie so nicht oft gegeben hat, und ein Gift, das einem schon den Magen verderben kann. Ja: Die sexuelle Gewalt gegen Frauen, verübt vor allem von jungen Männern aus Nordafrika, hat alles, um Zorn zu wecken und Unsicherheit zu verbreiten.

Der öffentliche Raum war über Stunden hinweg ein Raum der Gewalt, die Taten waren so nah, die Täter so fremd, so vieles ist bis jetzt ungeklärt. Das aber hat eine Schleuse geöffnet, und der Strom der Erregung und des Hasses, der Mutmaßungen und Projektionen hat die Klugheit und Nüchternheit mit sich gerissen, bei Bürgern, Journalisten, Politikern. Als müsste diesen Januar dringend raus, was sich 2015 gestaut hat.

In der Debatte drängt jetzt all das raus, was sich aufgestaut hat

Jetzt muss es endlich mal gesagt werden! Alles, was man immer schon mal sagen wollte. Dass die Flüchtlinge meistens doch Betrüger und Grapscher sind und der Islam an sich das Problem ist. Dass die Merkel schuld ist und endlich das Kartell des politisch korrekten Schweigens geknackt werden muss. Oder andersherum: dass ein Rassist ist, wer sagt, dass die Täter aus dem arabischen Raum stammen und ihre Taten auch mit ihrem kulturellen Hintergrund zu tun haben könnten. Und dass der Sexismus überall lauert.

"Ein paar grapschende Ausländer, und schon reißt der Firnis der Zivilisation", empört sich der Kolumnist Jakob Augstein. "Es geht um den Islam", ruft der Kolumnist Harald Martenstein, der bringe "nicht selten" solche Verbrechen hervor. Der "triebhafte Araber" sei eine Erfindung wie der "schamlos-lüsterne Jude", verkündet Augstein. Martenstein hält mit: So, wie die Großeltern die Nazi-Verbrechen verharmlost hätten, würden nun die Taten von Köln verharmlost. Der Nazi-Vergleich! Wenn es den Deutschen richtig ernst ist, greifen sie zu ihm - und damit in der Regel auch daneben.

So geht es zu in den Foren, Kolumnen, Talkshows, Interviewspalten und hat selbst so respektable Kolumnisten wie eben Augstein und Martenstein erfasst. Die Frauen, die bedrängt und ausgeraubt wurden, werden in dieser Debatte genauso zur Projektionsfläche wie die Flüchtlinge und Ausländer, die nun vom braunen Mob zusammengeschlagen werden.

Es geht um Selbstvergewisserung und Deutungshoheit, da stören echte Menschen nur. Eine ordentliche Selbstgewissheit macht die ungewiss gewordene Welt wieder deutbar. Und fügt sich die widersprüchliche Wirklichkeit nicht mehr zum Bild, dann hilft der eigene Bildervorrat, geistig und gemütsmäßig Ordnung zu halten. Der Blick fürs Große und Ganze stimmt wieder. Und die anderen sind der dumpfe Mainstream, der einfach der Wahrheit nicht ins Auge sehen will. So geht es übrigens nicht nur in der Debatte um die Silvesternacht von Köln zu.

Der Schaden ist groß

Merkt denn keiner, wie viel intellektuelle Spießigkeit dahintersteckt, wie viel Angst um den eigenen geistigen Vorgarten? Wie viel Selbstreferenzialität und Unwille zur mühseligen Detailarbeit, zum Aushalten von Unsicherheiten und Widersprüchen? Manches von dem, was sich da in den vergangenen Tagen an Deutungsstrom ergossen hat, wirkt unfreiwillig komisch, wenn zum Beispiel konservative Christen nun für das Recht auf Minirock kämpfen und dafür, dass Schwule sich öffentlich küssen - weil das ja ein Symbol des christlichen Abendlands ist, das vorm Islam gerettet werden muss.

Nüchternheit und Gelassenheit wären angebracht

Insgesamt aber ist der Schaden doch groß. Auf der Strecke bleibt die Frage, was nun tatsächlich in dieser Nacht in Köln und anderswo geschah und was nun folgen muss, dass sich solche Übergriffe nicht wiederholen, damit Menschen in Deutschland sicher und friedlich leben können, ob Frau oder Mann, Flüchtling oder alteingesessen.

Das ist mühsamer, als mal eben schnell die Welt zu erklären und den anderen zum Sexisten, Rassisten, Gewaltverharmloser oder wenigstens zum Deppen zu machen. Man muss dann über Polizeiarbeit diskutieren, über den Schutz des öffentlichen Raums vor Grapschern aus Marokko wie vor rechten Gewalttätern aus Deutschland. Es heißt, über die Details des Sexualstrafrechts zu reden, über Pädagogik und Religion, Männer- und Frauenrollen.

Man muss streiten, ob es der Sache dient, wenn Flüchtlinge einen Wohnort zugewiesen bekommen oder leichter abgeschoben werden können, wenn sie Straftaten begehen. Es bedeutet, sich unbequem von Erkenntnis zu Erkenntnis zu tasten und Sätze zu sagen wie: "Ich weiß es nicht" oder: "Vielleicht hast du recht."

Geht das? Auch wenn gerade allen im Land die Nüchternheit und Gelassenheit schwerfällt? Wie wäre es mit einer kleinen Welterklärungsenthaltsamkeit, auf Probe, sagen wir bis kommenden Montag? Schaffen wir das?

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: