Süddeutsche Zeitung

Kita:Geschwärzte Erinnerung

Eine Kindertagesstätte in Nordrhein-Westfalen macht aus Datenschutzgründen Kinder in einer Fotomappe nachträglich unkenntlich. Die Gesichter auf den Fotos werden mit Filzstift übermalt. Die Empörung ist groß.

Von Violetta Simon

Poesiealben und Fotos von früher lassen die meisten Menschen lächeln. Ach schau, der Henry, den hatte ich beinahe vergessen, und da, die Julia, hat sich kaum verändert! Wenn aber die Kinder der katholischen Kindertagesstätte St. Michael im nordrhein-westfälischen Hackenbroich eines Tages die Erinnerungsalben aufschlagen, die ihnen die Betreuerinnen zusammengestellt und zum Abschied übergeben haben, sehen sie vor allem: schwarz.

Die einzige Erinnerung an die Kindergartenkumpels im Sandkasten und Erzieherinnen, auf deren Schoß sie sitzen durften: ausgelöscht, von Edding überkritzelt. Kein schöner Anblick. Aus Angst vor Verstößen gegen die Datenschutzverordnung hatte die Leitung der Kindertagesstätte sämtliche Personen unkenntlich gemacht - verschont blieb jeweils nur das Kind, dem die Mappe gehörte.

Die Empörung war groß, vielen Eltern ging das zu weit. Seit die lokale Presse über den Vorfall berichtete und die Geschichte bundesweit in anderen Medien aufgegriffen wurde, steht im Kindergarten St. Michael das Telefon nicht mehr still. Dort will man sich deshalb nicht mehr dazu äußern und verweist stattdessen auf das zuständige Pastoralbüro in Dormagen.

Pfarrer Peter Stelten beantwortet im Minutentakt Interviewanfragen. Dass eine solche Erinnerungsmappe nicht schön ist, sei ihm bewusst, sagt er am Freitag am Telefon. "Aber wir brauchten eine wasserdichte Lösung, also haben wir uns für den sicheren Weg entschieden." Die Alternative wäre gar keine Mappe gewesen. Was Stelten damit sagen will: Für Smiley-Aufkleber oder andere dekorative Lösungen war keine Zeit. "Es musste flott gehen, wegen des neuen kirchlichen Datenschutzgesetzes", sagt er. Dieses trat erst kürzlich, am 25. Mai, in Kraft.

Auch wenn die Konferenz der Diözesanbeauftragten bereits einige Zeit zuvor einen Leitfaden herausgegeben hatte, mit dessen Hilfe sich Einrichtungen auf die Neuerungen in Sachen Datenschutz vorbereiten konnten: "In einem Alltag, wo jede freie Hand für die Kinder gebraucht wird, konnten wir uns damit nicht ausführlich genug auseinandersetzen", gibt Stelten zu. Dafür sei das Thema viel zu komplex. Nele Trenner stimmt dieser Einschätzung zu. "Im normalen Alltag kann man solche Vorgaben kaum noch ohne juristischen Sachverstand lösen", sagt die Anwältin, die auf Datenschutz bei Kindern spezialisiert ist.

Natürlich sei es absurd, eine Erinnerung im Nachhinein zu schwärzen, statt zuvor die Erlaubnis der Eltern einzuholen. Solche Maßnahmen seien aber in Wirklichkeit weniger ein Anlass für Spott. Sondern ein Zeichen für ein tiefergehendes Problem: die kollektive Rat- und Hilflosigkeit, wie sie schon länger im Umgang mit persönlichkeitsbezogenen Daten von Privatpersonen existiert. Weil das entsprechende Gesetz zwar zum Schutz von Privatpersonen gemacht wurde - aber nicht von ihnen durchschaut und genutzt werden kann.

Kein Wunder, dass Einrichtungen für Kinder da besonders vorsichtig sind und alles richtig machen wollen. Zwar sei es üblich, dass Eltern im Vorhinein schriftlich erklären, ob Fotos von ihren Kindern gemacht und in Mitgliederzeitschriften oder im Internet veröffentlicht werden dürfen. Allerdings komme es vor, dass Eltern diese Erklärung später widerrufen mit dem Argument, dass diese nicht ganz freiwillig erfolgte. Und zwar zum Beispiel dann, wenn die Einverständniserklärung in die Anmeldung zum Kindergarten integriert ist - wie es auch bei der Kindertagesstätte in Hackenbroich der Fall war. "Manche Eltern schrecken in so einem Moment vor einer Ablehnung zurück, weil sie fürchten, durch ihre Verweigerung die Zusage für den Kita-Platz zu riskieren", sagt Anwältin Nele Trenner.

So gesehen habe der Träger in diesem Fall eindeutig richtig gehandelt, findet Trenner. Dennoch sollte man sich von den neuen Datenschutzregelungen nicht verrückt machen lassen. Es ist ja nicht so, dass jeder gleich verklagt werde, sagt Trenner, denn, immerhin: "Im Umgang mit solchen Gesetzen funktioniert tatsächlich noch vieles mit dem gesunden Menschenverstand." Im neuen Jahr soll in St. Michael sowieso alles besser werden.

Die Deutsche Bischofskonferenz sei gerade dabei, ein Regelwerk zu erarbeiten, das den Bedürfnissen aller gerecht werde, sagt Pfarrer Stelten. Für die nächste Generation der Vorschüler wird es dann hoffentlich Erinnerungsmappen geben, die man später gerne anschaut. Mit Gesichtern, an die man sich erinnert.

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SZ vom 04.08.2018
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