Kirgisistan:"Wie viele von uns müssen noch sterben?"

Kirgisistan: Aizada Kanatbekowa war auf ihrem Weg zur Arbeit, als sie entführt wurde. Hier Bilder einer Demonstration in der Hauptstadt Bischkek nach ihrem Tod.

Aizada Kanatbekowa war auf ihrem Weg zur Arbeit, als sie entführt wurde. Hier Bilder einer Demonstration in der Hauptstadt Bischkek nach ihrem Tod.

(Foto: VYACHESLAV OSELEDKO/AFP)

Der Tod einer jungen Frau nach einem Brautraub hat in Kirgisistan bei vielen Menschen Wut ausgelöst. In der Hauptstadt Bischkek gehen sie auf die Straße.

Von Frank Nienhuysen

Bischkek, Kirgisistan, eine Kreuzung in der Hauptstadt: Drei Männer packen Aizada Kanatbekowa auf ihrem Weg zur Arbeit und zerren sie vom Zebrastreifen in ein geparktes rotes Auto. Zeugen gibt es genug: eine Passantin, die seelenruhig mit Regenschirm vorbeigeht, während Kanatbekowa sich vor ihren Augen wehrt; einen Autofahrer, der anhalten muss - und eine Überwachungskamera, die alles aufnimmt, auch das Nummernschild des roten Wagens. Zwei Tage später, am vergangenen Mittwoch, fand ein Hirte das Auto auf einem Feld außerhalb der Hauptstadt. Darin die Leiche der 27-jährigen Kanatbekowa und die ihres mutmaßlichen Mörders, der sich nach der Tat selbst getötet haben soll.

Der Tod der jungen Frau hat in dem zentralasiatischen Land bei vielen Menschen Wut ausgelöst. Hunderte von ihnen zogen vor das Regierungsgebäude in Bischkek, viele trugen Transparente. Eine Frage, die auf den Plakaten gestellt wurde: "Wie viele von uns müssen noch sterben?" Der kirgisische Innenminister wurde zum Rücktritt aufgefordert, "Schande, Schande", riefen einige der Demonstrierenden voller Zorn über die träge Polizei. Präsident Sadyr Dschaparow, der sich am Wochenende in einem Referendum neue Machtbefugnisse sichern ließ, versprach, die Täter zu bestrafen, Bischkeks Polizeichef wurde nebst weiteren Beamten entlassen, doch erledigt dürfte das Problem damit für viele in der Bevölkerung nicht sein. Denn es geht weit über den Fall von Aizada Kanatbekowa hinaus.

Brautraube und erzwungene Hochzeiten sind ein verbreitetes Phänomen im Land. Oft kennen sich Opfer und Täter, so war es auch im aktuellen Fall. Der Mann behauptete in einem Telefonat mit den Behörden am Tag der Entführung, dass das Paar seit Monaten miteinander ausgehe, angeblich heiraten wollte und die Polizei sich nicht einmischen solle. Die Familie der Frau erzählte kirgisischen Medien, sie hätte dem Mann immer wieder gesagt, er solle Aizada Kanatbekowa endlich in Ruhe lassen.

Viele kirgisische Frauen kennen ihre Rechte nicht

Der neue Präsident hat die Praxis erzwungener Ehen und Brautraube, die in Kirgisistan "Ala-Kachuu" (etwa nehmen und wegrennen) genannt werden, verurteilt. Nach Angaben der Vereinten Nationen haben fast 15 Prozent der kirgisischen Frauen, die jünger sind als 24, unter Zwang geheiratet. Vor acht Jahren hatte die damalige kirgisische Führung das Gesetz verschärft und bestraft Brauträuber nun je nach Alter des Opfers mit bis zu zehn Jahren Gefängnis. Das ist die Theorie. Menschenrechtsgruppen beklagen allerdings, dass die Strafverfolgung weit weniger konsequent umgesetzt wird, als es das Gesetz vorsieht. Dies wiederum erhöht die Furcht vieler Frauen, Entführungen und Zwangsehen überhaupt anzuzeigen.

Eine kirgisische Lehrerin hat der SZ einmal vor einigen Jahren von ihrem Fall erzählt. Einer ihrer Kollegen hatte ihr angeboten, sie nach einem Konzert heimzufahren. Sie dachte sich nichts dabei und sagte zu. Ein Freund des Kollegen saß ebenfalls im Auto, ein weiterer stieg am nächsten Straßenblock zu. Eine Stunde lang fuhren sie zum Haus seiner Eltern, und die verängstigte Frau traute sich lediglich, ihre Mutter zu informieren. Die Ehe wurde später geschieden, ein Justizfall wurde daraus nicht.

Trotz der Strafverschärfungen sind viele Frauen in Kirgisistan verunsichert, welche Rechte sie überhaupt haben. Die Menschenrechtsaktivistin Maria Sereda entwickelte deshalb eine App, in der im Stil einer Animation realistische Entführungssituationen gezeigt werden und welche Auswege es gibt. Für Aizada Kanatbekowa gab es keinen mehr.

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