Kirche - Trier:Zehn Jahre Missbrauchsskandal: Opfer fordern "Aufklärung"

Berlin
Ein Kreuz steht auf einer Kirchturmspitze vor wolkenverhangenen Himmel. Foto: Friso Gentsch/dpa/Archivbild (Foto: dpa)

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Trier (dpa) - Rund zehn Jahre nach der Aufdeckung des Missbrauchsskandals in der katholischen Kirche in Deutschland hat es nach Ansicht der Opferinitiative "Eckiger Tisch" vielerorts noch "keine echte Aufklärung und Aufarbeitung" gegeben. Es gebe "einige Leuchttürme in der Landschaft" wie das Kloster Ettal und die Regensburger Domspatzen, aber "ansonsten fängt es erst an", sagte Sprecher Matthias Katsch der Deutschen Presse-Agentur.

Katsch hatte im Januar 2010 die Aufdeckung des Missbrauchsskandals am Berliner Canisius-Kolleg mit ins Rollen gebracht. Er gehört auch einer Expertenkommission der Bundesregierung zur Aufarbeitung von Missbrauch an.

Er hoffe, dass die Bischöfe im Frühjahr endlich grünes Licht für die unabhängige und transparente Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch nach einheitlichen Kriterien geben werden, sagte Katsch. Dann könnten unabhängige Forscher in die Archive der Bistümer gehen und "unabhängig von der Person die Verantwortung" benennen - was bisher noch nicht passiert sei.

Gesellschaftlich sei viel in Bewegung geraten. Aber: "Aus persönlicher Sicht von Betroffenen waren das zehn Jahre verlorene Zeit, wenn es um Unterstützung und Hilfe für Opfer geht", sagte Katsch. Das "klarste Beispiel" dafür sei: "Dass wir die Entschädigungsdebatte erst jetzt führen."

Der Beauftragte der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) für Fragen des sexuellen Missbrauchs, der Trierer Bischof Stephan Ackermann, will sich am (heutigen) Donnerstag zur Aufarbeitung des Missbrauchsskandals äußern, der vor zehn Jahren öffentlich wurde.

Katsch sagte weiter, es habe in der katholischen Kirche fast zehn Jahre gedauert, bis man eingesehen habe, dass der Missbrauchsskandal nicht nur "einige wenige Priester, die Schlechtes getan haben", betreffe. Nun aber hätten die meisten Bischöfe begriffen, dass sie es mit einem institutionellen Problem zu tun hätten. Nach der "Bewusstseinsveränderung" werde es aber noch Jahre dauern, bis neue Strukturen tatsächlich geschaffen seien. Die Kultur des Missbrauchs und der Vertuschung sei "ganz tief verwurzelt und es wird noch lange dauern, sie aufzubrechen".

Mit Blick auf angestrebte Reformen sei die Kirche "mitten im Prozess". Die Zeit sei seiner Ansicht nach vergleichbar mit der Reformation. "Es ist ein kirchenhistorischer Moment." Der Missbrauchsskandal sei auch eine Chance für die Kirche, "sich grundsätzlich infrage zu stellen und sich zu erneuern". Ob das zehn oder 50 Jahre dauern werde, könne man nicht sagen.

Es sei "schwer erträglich", dass man erst in den letzten Monaten angefangen habe über Entschädigungen für Opfer zu diskutieren. Bisher habe die Kirche als "symbolische Anerkennung" in rund 2000 Fällen Beträge von bis zu 5000 Euro, oft aber weniger, bezahlt. Experten haben jetzt wesentlich höhere Entschädigungen bis zu 400 000 Euro vorgeschlagen. "Wir appellieren an die Bischöfe, eine solidarische Lösung zu finden, an der alle beteiligt sind", sagte Katsch. In einen möglichen Fonds sollten Bistümer und Orden zahlen.

Aufarbeitung und Entschädigung seien wichtig für die Opfer, um mit dem Erlebten abschließen zu können. Dazu gehöre, dass "zumindest symbolisch Gerechtigkeit geschieht" und Täter und Opfer klar identifiziert werden: "Das gehört sich eigentlich bei solchen Verbrechen."

Katsch, der als Jugendlicher am Canisius-Kolleg sexuell misshandelt worden war, sagte: "Ich habe diese zehn Jahre als Befreiung auch persönlich empfunden." Das erfahrene Leid gehe nie weg. "Das ist, wie wenn man einen körperlichen Schaden erlitten hat. Es wächst nicht wieder nach." Er habe aber gelernt, damit zu leben und umzugehen.

Über seinen Kampf gegen das lange Schweigen und über die zehn Jahre Bilanz hat er ein Buch geschrieben, dessen Titel auch ein Appell ist: "Damit es aufhört." Es wird am 14. Januar erscheinen - rechtzeitig vor dem 10. Jahrestag der Aufdeckung des Skandals am Berliner Canisius-Kolleg am 28. Januar 2010.

Der Sprecher der Reformbewegung "Wir sind Kirche", Christian Weisner, sagte, auch wenn die katholische Kirche im vergangenen Jahrzehnt "viel getan" habe: "Es ist trotzdem immer noch zu wenig." Die "richtige, ganz konkrete Aufarbeitung", bei der sich Bischöfe und Personalverantwortliche zu ihrem konkreten falschen Handeln im Umgang mit Missbrauchsfällen bekennen würden, fehle noch. "Verantwortliche sollten die Betroffenen persönlich um Entschuldigung bitten. Gegebenenfalls sind auch persönliche Konsequenzen zu ziehen."

Jahrzehntelang seien Fälle vertuscht worden, es habe bei Tätern eine "Verschiebetaktik" gegeben: Priester wurden von Bistum zu Bistum, Ordensmitglieder sogar von Land zu Land versetzt. Auch das Thema der Entschädigungszahlungen für Opfer müsse noch geklärt werden. Wichtig bei einer Neureglung sei, eine für Opfer "würdige Form" zu finden.

Zudem müsse "das grundlegend falsche Rollenmodell mit der klerikalen Vormachtstellung des Priesters und der Über- und Unterordnung von Mann und Frau" endlich reformiert werden. Die Themen Sexualmoral, Zölibat, Gewaltenteilung und die Rolle der Frauen in der Kirche liegen nun beim Synodalen Weg auf den Tisch: Diese Beratungen zu Reformen waren nach einer Studie zum Missbrauchsskandal angestoßen worden.

Die Problematik und die Zusammenhänge seien schon lange vorher klar gewesen. "Es ist unendlich traurig und schmerzhaft, dass die Kirche so langsam lernt", sagte Weisner. Ihr "moralischer Autoritätsverlust" und der erlittene Schaden seien enorm. Er schätzt, dass es Jahrzehnte dauern werde, bis sich die Kirche wieder davon erholt habe.

Laut der sogenannten MHG-Studie, die im Auftrag der DBK zum Missbrauchsskandal erstellt und im Herbst 2018 vorgelegt wurde, sind bundesweit in den Personalakten von 1946 bis 2014 insgesamt 1670 Kleriker wegen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger beschuldigt worden. Es gab 3677 Opfer.

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