Süddeutsche Zeitung

Katholische Kirche:Der Gegengipfel der Überlebenden

  • Einige Dutzend Menschen, die von katholischen Geistlichen missbraucht wurden, sind nach Rom gereist. Am kommenden Samstag ist eine Kundgebung, der "March to Zero Tolerance", geplant.
  • Viele Opfer haben sich in internationalen Netzwerken und Vereinigungen organisiert.
  • Die Erwartungen an die Konferenz und Papst Franziskus sind hoch.

Von Oliver Meiler, Rom

Alle Dramatik in einem Wort: "Survivors", Überlebende. So nennen sich im Englischen jene Menschen, die von katholischen Geistlichen sexuell missbraucht wurden, als sie noch klein waren. Knaben, Mädchen. Aber auch junge Erwachsene, Seminaristen zum Beispiel, oder Ordensschwestern. Das lange Schweigen der Kirche hat auch sie verschluckt: ihre Stimmen, ihre Geschichten, ihr Leiden. Und so sind nun einige Dutzend von ihnen nach Rom gereist, um wenigstens am Ort zu sein, wenn sich der Vatikan zum ersten Mal umfassend und global mit seiner dunkelsten Seite beschäftigt. Drinnen, in der Aula Nuova del Sinodo, der neuen Synodenaula, wo die Konferenz stattfindet, sind sie zwar nicht dabei. Doch man hört sie.

Sie haben sich organisiert, etwa im internationalen Netzwerk ECA, in dem sich Opfervereinigungen aus 18 Ländern und vier Kontinenten zusammengefunden haben. Die Abkürzung steht für "Ending Clergy Abuse": den Missbrauch durch Kleriker beenden. Oder bei der amerikanischen Internetplattform "Bishop Accountability", bischöfliche Rechenschaft, die Zehntausende Dokumente über Missbrauchsfälle sammelt und archiviert. Und bei "Voices of Faith", einer internationalen Vereinigung katholischer Frauen, die unter anderem die Misshandlung von Nonnen anprangert, ein anderes schändliches Kapitel. Parallel zum nur sehr beschränkt öffentlichen Gipfel der Vorsitzenden der Bischofskonferenzen läuft in Rom also ein Gegengipfel der Überlebenden, der "Survivors". Sehr öffentlich.

Nach jedem Pressebriefing des Vatikans unterrichten die Opfer die Medien über ihre Sicht der Dinge, und zwar gleich vor dem Presseamt des Vatikans, an der Via della Conciliazione, der großen Zufahrtsallee zum Petersplatz. In den Tagen vor dem Gipfel waren alle diese Vereinigungen schon im Zentrum der römischen Auslandspresse aufgetreten, das für die Gelegenheiten so gut besucht war wie selten. Am kommenden Samstag ist dann eine Kundgebung auf der Piazza del Popolo geplant, ein paar Kilometer vom Vatikan entfernt. Sie trägt den Namen "March to Zero Tolerance", Marsch zur Nulltoleranz. So lautet das große Motto im Kampf gegen den sexuellen Missbrauch von Minderjährigen.

Sie hätten zwar keine Mittel, um einen solchen Gegengipfel professionell aufzuziehen, sagte der US-Amerikaner Peter Isely, einer der Mitgründer von ECA. "Doch es ist schon heilend, dass wir hier so zahlreich sind." Isely, aus Wisconsin, der mit 13 von einem Priester missbraucht wurde, gehörte zu einer Gruppe von zwölf Männern und Frauen, die am Tag vor dem Konferenzauftakt für ein Treffen in den Vatikan eingeladen wurden, stellvertretend für alle Betroffenen.

Zwei Stunden dauerte das Treffen, kurz davor war noch nicht einmal klar gewesen, wo es stattfinden würde, wer dabei sein würde, alles war improvisiert. Danach gab es aber ein offizielles Bulletin des vatikanischen Presseamtes. Darin hieß es, das Vorbereitungskomitee der Konferenz danke den Opfern, dass sie mit ihren Zeugnissen das Verständnis für die "Schwere" und "Dringlichkeit" der Angelegenheit weiter geschärft hätten. Der Kirche war offenkundig daran gelegen, nicht unsensibel zu wirken: Die meisten Opfer waren auf eigene Kosten nach Rom gereist, von überall her.

Mit einem Federstrich könnte der Papst alles ändern

Der Papst aber, der war nicht dabei, und das enttäuschte viele. Isely sagte später, sie hätten ja immerhin "den Papst bei ihm zu Hause" besucht. Überhaupt: Franziskus. Als Jorge Mario Bergoglio zum Papst gewählt wurde, sei die Hoffnung groß gewesen. Schon dass er sich Franziskus nannte, nach dem Heiligen von Assisi, habe wie eine Garantie gewirkt, dass alles besser würde, sagt Isely. Doch es braucht nicht viel, und die Hoffnung ist weg. Nämlich dann, wenn dieser Gipfel im Vatikan nicht für immer festschreibt, dass Kleriker, die sich an Kindern vergangen haben, und Bischöfe, die sie decken, in den Laienstand versetzt werden. "Der Papst", sagt Isely, "kann das mit einem Federstrich umsetzen." Franziskus sei der Chef, fügt er wie zur Rechtfertigung hinzu, den Katechismus habe er schließlich auch einfach überholt.

Nun, die Wahrscheinlichkeit, dass es am Ende dieser Missbrauchskonferenz einen solchen Federstrich geben wird, ist natürlich sehr klein. Für manchen "Survivor" ist der Moment dennoch einzigartig, etwa für Francesco Zanardi, 48 Jahre alt, aus dem ligurischen Savona. Er war elf, als ihn "Don Nello", ein junger Pfarrer, zum ersten Mal missbrauchte. Zanardi erzählt, er habe bis 30 kein normales Sexualleben gehabt, habe sich geschämt, Drogen genommen. Erst als "Don Nello", der sich auch an anderen Jungen verging, verurteilt wurde, fand Zanardi den Mut, öffentlich zu reden. Vor sechs Jahren gründete er das Netzwerk "L'abuso" (der Missbrauch), dem sich seither fast tausend Opfer angeschlossen haben.

Trotz seiner intensiven Öffentlichkeitsarbeit in den vergangenen Jahren war Zanardi dem großen Publikum bisher kaum bekannt. Das hat auch damit zu tun, dass die katholische Kirche in Italien noch ganz am Anfang steht bei der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle. Sie verdrängt und vertröstet. Außerdem sind italienische Bischöfe noch immer nicht dazu verpflichtet, Strafanzeige zu erstatten gegen Kinderschänder aus dem Klerus, wie das mittlerweile in sonst fast allen europäischen Ländern der Fall ist. Auch um das zu ändern, würde ein Zeichenstrich reichen, allerdings wäre ein doppelter nötig - vom italienischen Staat und dem Vatikan. Die Regelung, die die Bischöfe in Italien von ihrer Anzeigepflicht entbindet, leitet sich aus den Lateranverträgen ab, die in Italien die Trennung von Kirche und Staat besiegelt haben.

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SZ vom 22.02.2019/moge
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