Kirche - Hildesheim:"Unsägliches Leid" - Kirche schützte Priester statt Kinder

Deutschland
Bischof Heiner Wilmer hält den Abschlussbericht zu sexualisierter Gewalt in den Händen. Foto: Moritz Frankenberg/dpa (Foto: dpa)

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Hildesheim (dpa/lni) - Anhaltspunkte für ein Netzwerk pädosexueller Priester im Bistum Hildesheim in den 1950er bis 80er Jahren gibt es nicht, wohl aber Beweise für ein systematisches Verheimlichen und Vertuschen von Missbrauchsfällen. Das geht aus einer mehr als 400-seitigen Studie einer Expertengruppe zur Amtszeit des 1988 gestorbenen Hildesheimer Bischofs Heinrich Maria Janssen hervor. Er ist der der erste Bischof in Deutschland, dem selbst sexueller Missbrauch vorgeworfen wurde.

Die 2015 und 2018 dokumentierten Vorwürfe waren Ausgangspunkt dafür, dass das Bistum die Expertengruppe mit Juristen, Soziologen und Kriminologen beauftragte. Die Fachleute fanden keine weiteren Hinweise auf Missbrauchstaten des Bischofs. Die beiden Vorwürfe gegen Janssen seien aber auch nicht entkräftet worden, sagte die Vorsitzende der Kommission, die frühere niedersächsische Justizministerin Antje Niewisch-Lennartz, am Dienstag.

2015 hatte ein Mann öffentlich gemacht, dass er von Bischof Janssen Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre als Messdiener missbraucht worden sei. 2018 hatte dann ein 70-Jähriger geschildert, er habe sich als Heimkind vor Janssen nackt ausziehen müssen. Der Bischof habe ihn mit den Worten weggeschickt, er könne ihn nicht gebrauchen. Zum Bischof gebracht habe ihn der damalige Leiter des Kinderheimes Bernwardshof - dieser Priester habe ihn auch missbraucht. Unter den Tatverdächtigen aus dem Umfeld des Bischofs ist der Studie zufolge zudem sein damaliger Justiziar sowie der damalige Archivleiter.

Ein Täternetzwerk sei überhaupt nicht notwendig gewesen, denn pädosexuelle Priester hätten ständig Zugang zu Kindern gehabt, sei es im Zeltlager, in der Kirche oder in der Wohnung des Pfarrers, sagte die Vorsitzende der Expertengruppe: "Es gab keine sicheren Orte." Besondere Risikoorte waren demnach Gemeinden sowie Kinderheime. "In keinem Fall ist bekannt, dass Bischof Janssen sich für das Schicksal betroffener Kinder und Jugendlicher interessierte", ist ein Fazit der Expertengruppe.

Der Missbrauchsskandal in der Katholischen Kirche in Deutschland war 2010 aufgedeckt worden. Wie sich herausstellte, hatten Priester seit 1945 Tausende von Kindern sexuell missbraucht. Nur ein winziger Bruchteil der Taten wurde strafrechtlich verfolgt.

Die 2018 veröffentlichte bundesweite MHG-Studie erfasst für das Bistum Hildesheim 21 tatverdächtige Priester - die neue Untersuchung identifizierte weitere 13 namentlich genannte Kleriker und weitere 11 ohne Namensnennung. Insgesamt wurden allein für das Bistum Hildesheim 71 Tatverdächtige dokumentiert, neben 45 Geistlichen auch weltliche Mitarbeiter der Kirche sowie Jugendliche in Heimen. Über 60 Verdachtsfälle bezogen sich erst auf die Zeit nach 2010.

Der aktuelle Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer setzt sich für die Aufklärung der Verbrechen der Vergangenheit und für die Prävention von sexualisierter Gewalt ein. "Beim ersten Durchlesen des Berichtes stand mir vor Augen, welch unsägliches Leid, welche Schmerzen, welche Qualen Menschen, vor allem jungen Menschen, durch unsere Kirche zugefügt wurden", sagte Wilmer am Dienstag. Er forderte Betroffene auf, sich zu melden und versprach Hilfe.

Viele Opfer der Priester schweigen bis heute aus Scham oder aus Angst, dass ihnen nicht geglaubt wird. Bei Verdachtsfällen wurden die mutmaßlichen Täter noch bis 1982 in der Regel nur in eine andere Gemeinde versetzt, wo sie wieder Zugang zu Kindern hatten. Waren die Vorwürfe schon zu bekannt, wurden die Priester in andere Diözesen oder gar ins Ausland versetzt. Statt mit der ermittelnden Staatsanwaltschaft Braunschweig zu kooperieren, wurde in einem Fall einem Beschuldigten eine Stelle in Lateinamerika vermittelt - sein Aufenthaltsort war dem Bistum danach angeblich unbekannt.

Mittlerweile können die Betroffenen von sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche Anerkennungszahlungen beantragen, nach einem Beschluss der deutschen Bischöfe 2020 auch höhere Summen. Jens Windel von der Betroffeneninitiative-Hildesheim plädierte dafür, dass sich diese Zahlungen an den Schmerzensgeld-Tabellen im öffentlichen Recht und am oberen Rand orientieren sollten. Er bekomme Rückmeldungen von Betroffenen aus ganz Deutschland, dass es teilweise wieder nur Versprechen der Kirche gebe, die nicht eingehalten würden.

Im Bistum Hildesheim wurden bisher 450.000 Euro Anerkennungszahlungen an Betroffene bewilligt. 80 Personen hätten einen Antrag gestellt, teilte die Kirche auf Nachfrage am Dienstag mit. Nach Bistumsangaben beziehen sich allein 109.000 Euro auf vier bewilligte Anträge aus jüngster Zeit.

© dpa-infocom, dpa:210913-99-204495/5

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