Kindesmissbrauch:Ein Anfangsverdacht und eine Lebensbeichte

In Hannover ist das Vertrauen der Eltern erschüttert, weil ein Erzieher den 240-fachen Missbrauch an Kindern seiner Kita gestanden hat.

Von Ralf Wiegand

Es schien Marc L. sogar zu erleichtern, als die Polizei kam. Dabei hatten die Beamten nicht einmal etwas gegen den 32-jährigen Erzieher in der Hand, nur einen Hinweis "aus dem Umfeld" jener Kindertagesstätte, in der Marc L. arbeitete.

Kindesmissbrauch: Die Kindertagesstätte "Rasselbande" in Hannover-Linden, in der die Taten geschahen.

Die Kindertagesstätte "Rasselbande" in Hannover-Linden, in der die Taten geschahen.

(Foto: Foto: ddp)

So sagt es jedenfalls Oberstaatsanwalt Henning Meier: Da sei jemandem etwas komisch vorgekommen, diese Person habe sich der Polizei offenbart, und deswegen seien die Beamten "nur mal auf Marc L. zugegangen, um nachzufragen". Es brauchte kaum Fragen, um alle Antworten zu bekommen: Marc L. gestand sofort. "Eine richtige Lebensbeichte", sagt Henning Meier.

Einziger Mann in der Kita

Marc L., einziger Mann in einer Kita in Hannover-Linden, hat den Ermittlern gestanden, sich jahrelang an ihm anvertrauten Kindern vergangen zu haben.

Von 2002, als er in der Kita anfing, bis vergangenen Dienstag soll sich der teilweise schwere sexuelle Missbrauch erstreckt haben. Der alleinstehende, kinderlose Täter sitzt in Untersuchungshaft. Fünf Mädchen und zwei Jungen seien zu seinen Opfern geworden, gab er zu.

Vergewaltigt habe er keines der Kinder, ihnen aber bisweilen Finger oder Gegenstände eingeführt. Bis zu 240 Taten notierte der Haftbefehl. Die Polizei geht davon aus, dass L. voll geständig ist. Es melden sich aber auch besorgte Eltern, deren Kinder Kitas besuchten, in denen L. früher arbeitete.

Keine privilegierte Gegend

Die Sache wäre schlimm genug, bliebe die Tagesstätte in Hannover-Linden der einzige Tatort. Der Stadtteil ist keine privilegierte Gegend. Ein Kindergarten ist hier besonders ein Hort des Vertrauens. Das habe es Marc L. leichter gemacht, seine Neigung auszuleben, glaubt Rudolf Egg.

Der Psychologie-Professor leitet die Kriminologische Zentralstelle in Wiesbaden und erforscht Sexualkriminalität. Er sagt: "Wenn jemand eine pädophile Neigung hat und die Chance bekommt, sie auszuleben, ergreift er sie auch."

Beruf entsprechend gewählt

Marc L., vermutet Egg, könnte sich seinen Beruf entsprechend gewählt haben: Kindererzieher. Viele Pädophile suchten den vertrauensvollen Umgang mit Kindern - in Freizeitgruppen, Sportvereinen, Kirchen.

Ein Anfangsverdacht und eine Lebensbeichte

Es gebe Männer, die in Anzeigen gezielt nach alleinerziehenden Müttern fahndeten, um Kontakt zu deren Kindern zu bekommen. "Besondere Tatgelegenheit" heißt das im Jargon. Das Misstrauen von Kindern Fremden gegenüber fällt als Schutzmechanismus aus.

Wieso niemand etwas merkte, drei Jahre lang, ist für Egg rätselhaft: "Ich bin gespannt, was die Ermittler da noch herausbekommen." Der Staatsanwalt kann es nicht erklären, die Polizei ermittelt, "ob jemand etwas hätte merken müssen", sagt ein Sprecher.

Speziell geschulte Polizistinnen

Derzeit reden speziell geschulte Polizistinnen mit den Kindern, laut Staatsanwalt "ganz behutsam. Intensive Fragen könnten mehr Schaden anrichten als die Taten selbst." Die Opfer sind heute höchstens acht Jahre alt.

Das Vertrauen aber ist weg. Manche Eltern, die ihre Kinder in die von einem privaten Verein getragene und vorerst geschlossene Kindertagesstätte gegeben hatten, wollen beim nächsten Kindergarten darauf achten, dass kein Mann dort beschäftigt ist.

Niedersachsens Innenminister Bernd Busemann fürchtet gar eine "schwere Vertrauenskrise" zwischen Kitas und Eltern generell. Zur Beruhigung schlägt Experte Egg vor, männliche Erzieher nie allein mit den Kindern zu lassen.

Zu bestimmten Zeiten allein

Im Fall von Marc L. war das zu bestimmten Zeiten so; genau dann kam es offenbar zu den Taten. Durch doppelt besetzte Schichten ließe sich die Gefahr von Übergriffen verringern, glaubt Egg; dazu würden die Männer vor unbegründeten Verdächtigungen geschützt.

Auf keinen Fall aber dürften männliche Erzieher unter Generalverdacht geraten. Kein Mann werde nur dadurch zum Pädophilen, dass er mit Kindern arbeitet: "Erst ist da die Neigung", sagt Egg, "und dann die Gelegenheit".

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: