Süddeutsche Zeitung

Kinderhochzeiten in der Türkei:Eine tiefe, blutende Wunde

Der Tod einer 14-jährigen Mutter versetzt die Türkei in Aufruhr: Zuvor hatte sie bereits ihr zweites Kind zur Welt gebracht. Das Land diskutiert nun wieder einmal über das Los der Kinderbräute - vielleicht kann ein hochemotionaler Spielfilm bei der Debatte helfen.

Von Christiane Schlötzer, Istanbul

Sie hieß Kader. Dies ist das türkische Wort für "Schicksal". Kader ist tot. Sie wurde mit einer Schusswunde aufgefunden. Die Schwiegereltern sprechen von Suizid. Vor ihrem Tod hatte Kader ihr zweites Kind zur Welt gebracht - mit 14 Jahren, wenn stimmt, was in Kaders eigener Geburtsurkunde steht. Deshalb debattiert die Türkei nun wieder einmal über das Los der Kinderbräute. Denn es gibt viele Kaders, und die wenigsten Schicksale werden bekannt.

Die junge Mutter aus einem Dorf in der Südostprovinz Siirt ist schon begraben. Zuvor haben die Behörden eine Autopsie veranlasst, denn es gibt Zweifel, dass sie sich selbst das Leben genommen hat. Kaders erstes Kind ist bereits 18 Monate alt. Eine Geburtsurkunde hat es nicht. In ländlichen Regionen der Türkei ist es nicht unüblich, dass Kinder erst einige Zeit nach ihrer Geburt registriert werden. So behauptet auch die Familie von Kader nun, diese sei in Wahrheit älter gewesen als in den Papieren steht.

Im September 2013 waren die Behörden bereits auf die blutjunge Mutter aufmerksam geworden. Sie forderten gar einen Knochentest. Der ergab, dass Kader womöglich 16 Jahre alt war. Auch wenn das stimmt, war sie eine Kinderbraut.

Sondergenehmigung für den Premierssohn

Premier Recep Tayyip Erdoğan hat einst eine gerichtliche Sondergenehmigung für seinen Sohn beantragt, damit dieser eine 17-Jährige heiraten durfte. Das war 2003, als Erdoğan erst kurz im Amt war. Nun regiert dessen konservativ-islamische AKP seit gut einer Dekade, und Kritiker beklagen, dass sie viel zu wenig gegen das Übel der Kinderhochzeiten tue. Im Gegenteil: Eine Schulreform, die die Ausbildung in drei Blöcke zu je vier Jahren teilte, sorge dafür, dass Mädchen vor allem im Südosten wieder früher zu Hause blieben.

Familienministerin Ayşenur Islam hat nun eine eigene Untersuchung zum Fall Kader veranlasst. Die Dimension des Problems muss auch der Regierung bekannt sein. Nach einer Statistik des Innenministeriums waren in der vergangen drei Jahren 128.866 Mädchen und 5763 männliche Jugendliche bei ihrer Hochzeit keine 18 Jahre alt. Die Autorin Riada Ašimović Akyol zitierte diese Zahlen erst vor wenigen Tagen im Internetmagazin Al Monitor und nannte Kinderhochzeiten die "tiefste blutende Wunde der Türkei". Da war Kaders Schicksal noch gar nicht bekannt.

Ein Drittel der Frauen sind minderjährig

Die im Südosten aktive Frauenorganisation Kamer befragte 60.000 Frauen in 23 Provinzen: Ein Drittel waren bei ihrer Hochzeit minderjährig. Ein Tabu ist das Thema nicht mehr, aber die Debatten auf Konferenzen und in den Medien haben bislang wenig genützt. Vielleicht hilft ja ein hochemotionaler Spielfilm. "Halam Geldi" (Meine Tante ist gekommen) heißt er, seit zwei Wochen läuft er in den türkischen Kinos, und bald soll er sein Publikum auch in Europa finden.

Das Drehbuch hat die Istanbuler Journalistin Evrim Kanpolat geschrieben. Sie besteht darauf, dass es sich um eine wahre Geschichte handelt. Das Drama spielt im türkischen Teil Zyperns, in einer Dorfgesellschaft. Genauso gut könnte es sich um ein Armenviertel Istanbuls handeln, oder um eine Familie in Kairo oder Riad. Die Mädchen in dem Film erleben mit der ersten Menstruation das jähe Ende ihrer Kindheit. Sie müssen heiraten, weil ihre Eltern glauben, nur so sei ihre Jungfräulichkeit bis zur Ehe zu bewahren.

Das gesetzliche Heiratsalter in der Türkei beträgt 18 Jahre - für beide Geschlechter. Aber wenn die Eltern zustimmen, dürfen auch 17-Jährige verheiratet werden, und wenn es die Gerichte erlauben, sogar 16-Jährige. Frauenorganisationen haben bislang vergeblich verlangt, die Ausnahmen abzuschaffen. Der Chef der türkischen Religionsbehörde, Mehmet Görmez, hat zwar Eltern, die ihre Töchter an ältere Männer verheiraten, erst jüngst als "rücksichtslos" bezeichnet, aber es ist nicht bekannt, dass er sich dafür eingesetzt hätte, die Lücken im Recht zu schließen.

Gülten Kaya von der Türkischen Anwaltskammer fürchtet sogar eine Zunahme der Fälle. Immer mehr Eltern forderten von den Gerichten, ihre Kinder "älter" zu machen, zitierte Hürriyet die Juristin. Nicht immer wird der Staat überhaupt gefragt. Da viele Kinderehen offiziell nicht registriert werden, "sagen die Statistiken nicht die Wahrheit", warnt Erhan Tunç von der Gaziantep-Universität, der herausfand, dass 82 Prozent der Kinderbräute Analphabetinnen sind.

Auch Kinderehen werden von einem Imam geschlossen. Würden die Geistlichen bestraft, wäre das Problem bald erledigt, schreibt Hürriyet. Denn das Gesetz sieht für alle Beteiligten sogar Gefängnisstrafen vor. Doch meist schaut der Staat erst hin, wenn es zu spät ist - wie bei Kader.

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SZ vom 16.01.2014/dato
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