Süddeutsche Zeitung

Kinderarbeit:Stolz im Elend

  • Die Kinderrechtsorganisationen Terre des Hommes und Kindernothilfe haben 1800 Kinder befragt, die regelmäßig arbeiten müssen.
  • Viele sind trotz ihres Elends stolz darauf, ihre Familien zu unterstützen - wenn die Rahmenbedingungen stimmen.
  • 152 Millionen Kinder weltweit müssen arbeiten, davon schätzungsweise 73 Millionen unter ausbeuterischen Bedingungen.

Von Ulrike Heidenreich

Es hört sich absurd an: Wenn Kinder sich in Gewerkschaften organisierten, würden sie besser bezahlt und könnten länger die Schule besuchen. Es geht, wohlgemerkt, um Kinderarbeit. Rund 150 Millionen Mädchen und Jungen schuften weltweit unter oft miesen Bedingungen, sie haben keine Kindheit, keine echte Jugend.

Auf der vierten Weltkinderarbeitskonferenz, die an diesem Dienstag in Buenos Aires beginnt, äußern sich nun erstmals viele dieser Kinder. Ihre Aussagen sind teils überraschend. So können sie ihrer Situation oft sogar Positives abgewinnen und sind stolz auf die Arbeit, die sie leisten - vorausgesetzt, die Rahmenbedingungen stimmen. Kann man aus der Not eine Tugend machen?

Die betroffenen Kinder kommen selten zu Wort

Die befragten Mädchen und Jungen leben in Afrika, Asien, Lateinamerika, dem Mittleren Osten und Europa. Sie sind zwischen fünf und 18 Jahren alt und müssen regelmäßig arbeiten. Rund 1800 Kinder gaben Auskunft über ihr Leben, ihre Arbeit, ihre Ausbildung und ihre Familien - im Rahmen der groß angelegten Studie "It's Time to Talk" (Es ist Zeit, zu reden), die der SZ vorliegt.

Die Kinderrechtsorganisationen Terre des Hommes und die Kindernothilfe werden die Ergebnisse bei der Konferenz der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in Argentinien vorstellen. "Arbeitende Kinder wurden bisher nie gefragt, was aus ihrer Sicht wichtig wäre, warum sie arbeiten und welche Träume sie haben", sagt Anne Jacob von der Kindernothilfe, die mit der Kampagne "Time to Talk" Kindern auf internationaler Ebene buchstäblich eine Stimme geben will.

Viele der Kinder hadern nicht damit, arbeiten zu müssen

In der Studie taucht zum Beispiel ein elf Jahre alter Junge aus Myanmar auf, der als Flaschen- und Müllsammler vergleichsweise wenige Stunden arbeitet. Auf einer Zeitleiste hat er seinen Tagesablauf eingezeichnet: 3 Uhr: aufstehen. 4 Uhr: Hof fegen, putzen. 6 Uhr: waschen, anziehen. 7 Uhr: Schulbeginn. 11 Uhr: Mittagessen. 12 Uhr: Sammeln und Verkauf von Flaschen. 16 Uhr: Freizeit. 18 Uhr: Abendessen und fernsehen. 21 Uhr: Bettruhe.

Oder die 17 Jahre alte Madhu aus Nepal: Sie steht um 5 Uhr auf, ist von 6.15 Uhr bis 10.45 Uhr in der Schule. Nach dem Mittagessen arbeitet sie bis 20 Uhr in einem Spa- und Yogacenter. Danach geht sie nach Hause, isst, macht Hausaufgaben, und geht gegen 22 Uhr ins Bett. Madhu hadert nicht damit, dass sie arbeiten muss; dies sei selbstverständlich, weil sie so ihre Familie unterstützen, sich Schulmaterialien und Kleidung leisten könne. Was das Mädchen aber stört: "Schwierige Situationen" am Arbeitsplatz, wie sie sagt. Viele halten sie für eine Prostituierte, die wenigsten sind freundlich zu ihr.

Respektvolles Verhalten von den Arbeitgebern und Erwachsenen - dies ist allen befragten Kindern aus den 36 Ländern eines der wichtigsten Anliegen. Sie fordern die internationale Konferenz auf, Unternehmen dazu zu verpflichten, die Rechte von Kindern in ihren Geschäftspraktiken zu beachten. Wenn schon Kinderarbeit, dann wenigstens fair - so lässt sich der Inhalt der Kernbotschaften von 15 eigens gegründeten Kinderkomitees zusammenfassen. Die arbeitenden Jugendlichen verlangen eine Festlegung auf angemessene Bezahlung, eine Art Mindestlohn also. Auch die Arbeitszeit müsse klar geregelt werden, damit noch genügend Luft zum Lernen und für die Freizeit bleibe.

"Die Beteiligung und die Organisation von Kindern in Verbänden und Gewerkschaften verbessern den Kindesschutz. Wenn Jugendliche lernen, über gefährliche und unfaire Arbeitsbedingungen zu sprechen, stärkt sie das, eigene Forderungen zu stellen und ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern", sagt Barbara Küppers von Terre des Hommes.

Die Kinder fordern, gegen gefährliche Beschäftigungen vorzugehen

Von den 152 Millionen Kindern weltweit, die Geld verdienen müssen, arbeiten nach Schätzungen der Kinderrechtsorganisation 73 Millionen unter ausbeuterischen Bedingungen, zehn Millionen Kinder und Jugendliche leben in sklavenähnlichen Verhältnissen. Die befragten Kinder fordern denn auch ausdrücklich die Regierungen auf, per Gesetz gegen ausbeuterische, gefährliche und gesundheitsgefährdende Beschäftigungen vorzugehen.

Benjamin Pütter, ein deutscher Kinderarbeitsexperte, der Sozialprojekte zur Wiedereingliederung ehemaliger Kindersklaven begleitet, beschreibt in seinem Buch "Kleine Hände, großer Profit", eindrücklich eine Beobachtung aus Indien: "Da die Kinder in den Steinbrüchen mit viel zu großen Hämmern arbeiten und weil es viel zu selten Schutzkleidung gibt, verletzen sie sich oftmals schwer. So treffe ich häufig Kinder, die durch das Hämmern ein oder zwei Finger verloren haben. Das zu schwere Gewicht und die überlangen Arbeitszeiten lassen die Kinder rasch ermüden, sodass die Verletzungsgefahr steigt."

Kinderarbeit gibt es auch in Deutschland

Sie arbeiten in Gold- und Steinminen, Hotels und Restaurants, in Friseurläden, in Geschäften, auf Plantagen, im fremden Haushalten, in Textil- und Ziegelfabriken - bei allem Elend gaben viele befragte Kinder an, stolz auf den eigenen Verdienst zu sein. Sie werteten es als positiv, neue Kompetenzen durch den Job zu erlernen, die ihnen dann im Alltag weiterhelfen. Sie wollten bewusst zum Familieneinkommen beitragen und selbst dafür Sorge tragen, dass sie die Schule besuchen und eine Ausbildung bekommen können. Die 1800 Kinder kommen aus Ländern von Bangladesch, Guatemala, Indien, Kenia, Mali, Thailand bis Zimbabwe. In Europa standen Albanien, Kosovo und Serbien im Fokus.

Wie es in Deutschland aussieht? Wie viele Kinder hierzulande von Zwangsarbeit betroffen sind, ist nicht bekannt. Die Hilfsorganisationen vermuten, dass es hier vor allem um sexuelle Ausbeutung geht. 14 Prozent der Opfer des Menschenhandels zum sexuellen Missbrauch in Deutschland sind Kinder, so die Schätzungen. Sie kommen aus Rumänien, Bulgarien, aber auch aus Afrika, Indonesien und Lateinamerika.

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Quelle:
SZ vom 14.11.2017/csi
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