Kinder:Schön gefährlich

Spielplätze sind oftmals ein Schaukel-Rutsche-Wipptier-Einerlei. Bräuchten Kinder aber nicht viel mehr Orte wie "The Land" in Nordwales, an denen es aussieht wie auf einem Schrottplatz?

Von Ann-Kathrin Eckardt

Zuerst erfasst das Auge: ein Abwasserrohr, eine Kabelrolle, ein altes Sofa, Autoreifen, ein kaputtes Kinderrad, einen Wassergraben voller Schrott.

Bei genauem Hinsehen taucht im Müll eine kleine Brücke auf, die über den Wassergraben führt. Davor ein selbst gebauter Steg. Darüber der Triangelgriff eines Krankenbettes, aufgehängt an einem Seil. Dahinter eine Hütte aus Europaletten. Und plötzlich sind da auch: Kinder.

In vielen Teilen der Erde wäre der Anblick spielender Kinder im Müll nichts besonderes. In Plas Madoc in Nordwales allerdings schon. Seit 2012 darf auf dem wohl ungewöhnlichsten Spielplatz Europas gebaut, gehämmert, gesägt, geklettert und gezündelt werden, ganz ohne Aufsicht der Eltern. Drei "Playworker" sind zwar vor Ort, greifen aber möglichst wenig ein, denn Claire Pugh, Erzieherin, Mutter zweier Teenager und Gründer von "The Land" hat eine Mission: "Unser Müllspielplatz soll ein gefährdetes menschliches Verhalten fördern - das Risikospiel."

Waghalsige Baumbesteigungen, nächtliche Ausflüge oder heimliche Zündeleien, die meisten Erwachsenen haben die Abenteuer der Kindheit, die Gänsehaut ebenso wie Glücksgefühle auslösten, noch in lebhafter Erinnerung. Doch spannende oder gefährliche Situationen erleben viele Kinder und Jugendliche heute weder in ihrem Wohnumfeld, noch auf Spielplätzen. Vor allem ältere Kinder finden hierzulande immer seltener geeignete Plätze zum Spielen in der Nähe ihres Wohnortes. Denn zum einen, so teilt das Deutsche Kinderhilfswerk mit, werde immer weniger in Spielräume investiert. Zum anderen würden zahlreiche der insgesamt 120 000 Spielplätze im Bundesgebiet teilweise oder sogar vollständig rückgebaut und Brachflächen mit hohem informellen Spielwert zu Bauland erklärt. Viele Kommunen scheuten außerdem den drohenden Ärger mit Anwohnern und verlagerten Bolzplätze, Abenteuerspielplätze, BMX- oder Skateparks lieber an den Stadtrand.

Hinzu kommt die oft eintönige Gestaltung. Wer sein Kind auf einen Spielplatz begleitet, findet sich mit hoher Wahrscheinlichkeit im Schaukel-Rutsche-Wipptier-Einerlei wieder. "Es ist kein Zufall, dass die Spielplätze auf der ganzen Welt in den vergangenen Jahren immer langweiliger geworden sind", sagt Tim Gill. Der britische Spielplatzforscher ist überzeugt, dass sich das wachsende Sicherheitsbedürfnis einer Gesellschaft an ihren Spielplätzen ablesen lässt. Seit mehr als zwanzig Jahren vergleicht Gill Spielplätze auf der ganzen Welt. Es gebe einen globalen Druck, sie sicherer zu machen. "Alle haben heute mehr Angst als früher vor Dingen, die passieren könnten." Nicht nur die Eltern seien ängstlicher geworden. Auch Städte fürchteten, verklagt zu werden. Die aufregende, unbeobachtete Welt der Pippis, Michels und Ronjas - vielerorts existiert sie nur noch im Bilderbuch.

Für die Entwicklung der Kinder kann das fatale Folgen haben. Wer sich durch pädagogische Ratgeber und Studien liest, kommt schnell zu der Erkenntnis: Auf eigene Faust die Welt zu entdecken und sich ab und zu auch in Gefahr zu begeben, ist unabdingbar, um früh Kreativität, Belastbarkeit und soziale Fähigkeiten zu entwickeln und Ängste zu überwinden. Wissenschaftler der University of British Columbia konnten zudem belegen, dass Kinder, die draußen spielen, in jeder Hinsicht gesünder sind als wohlbehütete Kinder, die viel in der Wohnung bleiben. Und in der Studie "Raum für Kinderspiel" des Deutschen Kinderhilfswerks heißt es: "Gute Matheergebnisse erzielen nicht Kinder, die besonders viel Matheaufgaben üben, sondern die gut auf Bäume Klettern und balancieren können." Je höher das "kulturelle Kapital" der Eltern sei, desto eher seien diese der Ansicht, dass Spielen wichtiger als Lernen sei und zeigten eine positive Einstellung gegenüber vertretbaren Risiken.

In Dänemark eröffnete bereits 1943 der erste Gerümpelspielplatz

Tatsächlich ist der Drang, Risiken einzugehen, fester Bestandteil des menschlichen Lebens. Das sieht man bereits im kindlichen Spiel. Egal ob in Namibia oder in Nicaragua, in Deutschland oder Dänemark, überall sind es dieselben Gefahren, die Kinder anziehen. Ellen Sandseter, Psychologin an der Queen Maud University in Trondheim, hat sie in sechs Kategorien unterteilt: große Höhen, Geschwindigkeit, gefährliche Werkzeuge und Elemente, etwa Wasser oder Feuer, Raufen und Kämpfen und das Risiko, verloren zu gehen.

Dass Kinder nicht ohne Gefahren aufwachsen sollten, ist keineswegs eine neue Erkenntnis. In Dänemark eröffneten bereits 1943 erste "Skrammellegeplads", Gerümpelspielplätze. Der Landschaftsarchitekt Carl Theodor Sorenson hatte zuvor Kinder beim Spielen auf Baustellen und Schrottplätzen beobachtet. Es folgten Bau- und Abenteuerspielplätze. Der erste in Deutschland entstand 1952 in Mannheim. Da die Plätze in der Regel pädagogisch betreut sind, können sie Spielgeräte anbieten, die nicht den EU-Normen entsprechen. Die Betreuungskosten sind allerdings ein Grund dafür, dass es in Deutschland bislang nur gut 200 Abenteuerspielplätze gibt.

Viele Kinder wachsen in Deutschland also auf, ohne je auf einem Spielplatz gehämmert zu haben. Was aber passiert mit Kinder, die immer unter Aufsicht sind, ohne Platz zum Bauen, Buddeln und Balancieren? "Sie werden an anderen Stellen nach Risiken suchen, an Orten, die ihren Eltern verborgen bleiben, zum Beispiel im Internet", sagt Spielplatzforscher Tim Gill. Andere Studien nehmen an, dass diese Kinder als Jugendliche später eher zu selbstzerstörerischem Verhalten neigen. Gill, selbst Vater einer 20-jährigen Tochter, appelliert deshalb an die Eltern, die eigenen Ängste auch mal zu unterdrücken, und an alle Stadtplaner: "Baut aufregendere Spielplätze!"

Wie aber sehen die aus? Befragt man Kinder - was viele deutsche Gemeinden heute vor dem Bau tun - ist die häufige Antwort: Geisterhäuser, hohe Röhrenrutschen, Wasserspiele, Matsch. Die Geräte aber seien nur ein Teil, sagt Landschaftsarchitekt Wolfgang Mesenich, der für die Stadt München Spielplätze plant. "Das Gesamtkonzept muss stimmen, die Lage, die Bodenmodulierung, ausreichend Rasenfläche, Büsche zum Vestecken, und Bäume, die Schatten spenden." Auch Orte für Rollenspiele, etwa Holzhäuser, seien wichtig.

Und natürlich, dass es keinen Ärger mit den Anwohnern gibt. Auch Claire Pugh musste vor dem Start von "The Land" Überzeugungsarbeit leisten, bei den Anwohnern und auch bei vielen Eltern. Zuerst erklärte sie, was die Kinder auf dem Müllspielplatz alles machen könnten. Dann fragte sie: "Habt ihr das früher nie gemacht?" Die meisten waren dann schnell überzeugt.

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