Süddeutsche Zeitung

Katastrophen:Antakya - die Stadt, die es nicht mehr gibt

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Antakya (dpa) - In Antakya wirkt nichts mehr wie eine Stadt. Der Innenbezirk sieht aus, als habe man eine riesige Abrissbirne durch die Straßen geschwenkt. Drei Soldaten laufen plötzlich auf eine Ruine zu. Sie haben Stimmen gehört. Einer dreht sich um und ruft: "Seitenschneider." Ein usbekisches Hilfsteam kommt mit dem Werkzeug hinzugeilt. Sie hoffen, dort noch Überlebende finden zu können. Antakya (Hatay) ist mit am schwersten von dem Erdbeben in der Türkei getroffen. Doch Hilfe hat die Stadt erst spät erreicht.

Lebensmittel, Decken, Maschinen, helfende Hände: Das alles müsste auf schnellstem Weg in die Katastrophengebiete in der Türkei und auch in Syrien. Aber auf den Straßen in Richtung der Provinz Hatay, in der Antakya liegt, staut sich der Verkehr. Aus dem ganzen Land machen sich Helfer auf den Weg in die Region. Im Stau stehen voll beladene Lastwagen aus der ganzen Türkei, Linienbusse aus dem Westen des Landes, die zu Helfertransportern umfunktioniert worden sind - und Leichenwagen.

Auf Bildern, die Helfer schicken, ist zu sehen, wie Leichen in schwarzen Säcken auf dem Boden nebeneinander aufgereiht wurden. Der Abtransport der Leichen stockt Berichten zufolge. Die, die nicht innerhalb von 24 Stunden identifiziert wurden, sollen dennoch begraben werden. Viele Opfer liegen weiter unter den Trümmern. Menschen vor Ort warten auf Hilfe und Gerät. Rettungswagen versuchen, sich mit Sirenen durch den Stau zu drängeln.

Ein Helfer aus Oberbayern

Auch Yildirim Incekalan ist heute auf dem Weg nach Antakya. Der Mann aus dem oberbayerischen Moosburg hat sich dem deutschen Verein Navis e.V. angeschlossen. Ihm habe man gesagt, dass hier in der Gegend erst zwei Prozent der Häuser nach Verschütteten durchsucht worden seien, sagt er am Donnerstag.

Technische Hilfsmittel und Experten werden gebraucht, die die Leute rausholen aus den Trümmern. Das will der Navis-Verein leisten und außerdem medizinische Versorgung und sauberes Trinkwasser bringen.

Auf das Erkundungsteam soll am Freitag eine 14-köpfige Truppe mit 10 Tonnen Ausstattung im Gepäck anreisen - darunter Ärzte, medizinisches Personal, Apotheker, Techniker, Feuerwehrleute.

Helfer: Ausmaße nicht mit Worten zu fassen

Werner Hammerschmidt ist Notsanitäter und hat schon in vielen Erdbebengebieten Hilfe geleistet. "Die Ausmaße in der Türkei sind so groß, dass auch wir als Profis das nicht mit Worten fassen können", sagt der Ehrenamtliche.

Der türkische Vizepräsident Fuat Oktay sagte, mehr als 100.000 offizielle Helfer seien im Einsatz, hinzu kommen Tausende ehrenamtliche. Aus Dutzenden Ländern sind Helfer ins Land eingeflogen. Suchhunde aus dem Ausland werden eingeflogen, um Menschen in den Trümmern zu finden.

Geteilte Meinungen bei der Erdbebenvorsorge

Seit Jahren werden in der Türkei die Versäumnisse in der Erneuerung von unsicheren Bauten und Pfusch am Bau diskutiert. Dass viele Gebäude aus schlechten Materialien gebaut sind, ist unumstritten. Bei der Vorsorge gehen die Meinungen auseinander. Dass ein anderer Staat besser auf eine derartige Katastrophe in einem Gebiet - flächenmäßig größer als Deutschland und mit etwa 13,5 Millionen Einwohnern - vorbereitet sein könne, sei unvorstellbar, meinen die einen. Die Regierung habe nicht genügend getan, meinen die anderen. In der Frage, um was es jetzt gehen müsse, sind sich jedoch alle einig: Retten was geht.

In die Türkei gelangen immerhin einige Transporte. In Syrien aber kommt kaum Hilfe an. Im Nordwesten des Bürgerkriegslandes bleibt die Rettung von Menschen auch drei Tage nach der Erdbebenkatastrophe wegen des Mangels an Ausrüstung eine Herausforderung.

Weißhelme: "Es fehlt uns am Wesentlichen"

"Es fehlt uns am Wesentlichen. Wir brauchen große Kräne, um Trümmer und große Brocken zu beseitigen. Wir brauchen schwere Ausrüstung, um mit dieser Tragödie umzugehen", sagt Munir Mustafa, stellvertretender Leiter der Rettungsorganisation Weißhelme.

"Wir nutzen unsere Hände und Schaufeln, um die Trümmer zu beseitigen. Einige von uns haben in den letzten 70 Stunden nicht mehr als sechs Stunden geschlafen", sagte Ubadah Sikra, der die Rettungseinsätze bei den Weißhelmen koordiniert und inzwischen selbst mit anpackt. "Einige Freiwillige weigern sich, eine Pause zu machen, weil sie versuchen wollen, mehr Leben zu retten." Einige der Freiwilligen ziehen auch Freunde und Angehörige aus den Trümmern.

© dpa-infocom, dpa:230209-99-535035/6

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