Katastrophe von Ramstein:Das durchstoßene Herz

Jahrestag der Flugkatastrophe von Ramstein

Am Himmel über Ramstein stoßen am 28. August 1988 Maschinen der italienischen Kunstflugstaffel "Frecce Tricolori" zusammen

(Foto: DB Kraus/dpa)

Vor 25 Jahren besucht Thomas Wenzel mit seiner Freundin Karin eine Flugschau auf der Ramstein Air Base. Er wird Zeuge einer Katastrophe. Ein Blick zurück auf den Tag, der sein Leben für immer veränderte.

Von Ines Alwardt, Ramstein/Aurach

Früher ist er gerne auf Volksfeste gegangen. Aber das war in einem anderen Leben. Heute geht Thomas Wenzel nur noch seinem Sohn zuliebe mit, und auch nur, wenn der ihn dazu drängt. Die Glieder angespannt wie unter Strom, quält er sich dann durch die Menge, das Kind fest an der Hand. Und wenn der Junge ihn fragt, ob er sich denn gar nicht freue, sagt Wenzel immer: "Weißt du, ich bin einfach kaputt von der Arbeit."

Thomas Wenzel spricht leise, wenn er erzählt. Von dem Tag, der für ihn früher von heute trennt, dem 28. August 1988. Es ist der Tag, an dem Thomas Wenzel seine Stimme verliert. Und Karin, seine Verlobte.

Sie sind zu acht, als sie am Morgen ins pfälzische Ramstein aufbrechen, ihr Ziel: der amerikanische Fliegerhorst. Wie jedes Jahr feiert die Air Force ihren traditionellen Flugtag; die Freunde aus Nürnberg sind eigens dafür angereist, auch der zukünftige Schwiegervater ist dabei. Aber zurück wird Wenzel alleine fahren.

Lebensrettende Neugier

350.000 Menschen drängen sich auf der Air Base, das ganze Gelände - eine einzige große Stadt, die bei Barbecue und Burgern feiert. Wenzel bestaunt die blank polierten Düsenjets, ihr Stahl blitzt in der Sonne; mit den Freunden schlendert er über das Fest, isst amerikanisches Eis. Um kurz vor halb vier hat er genug. Aber die anderen wollen noch bleiben. Nur 15 Minuten. Sie wollen den Höhepunkt nicht verpassen: das "Durchstoßene Herz", die kunstvolle Flugfigur der italienischen Fliegerstaffel Frecce Tricolori.

Zusammen mit Karin setzt Wenzel sich in den Schatten hinter einen Lastwagen. Sie warten und planen schon das Abendessen. Um 15.44 Uhr schießen die zehn Düsenjets wie Raketen in die Luft, mit ihren Kondensstreifen malen sie ein Herz in den Himmel. Gleich, tönt es aus den Lautsprechern, soll der italienische Solopilot das Herz durchfliegen. Wenzel will sich das genau ansehen und geht auf die andere Seite des Lastwagens. Die Neugier wird sein Leben retten.

Als die Maschinen nach ihrem Sturzflug direkt über der Landebahn aufeinander zujagen, kommt der Solopilot vier Sekunden zu früh. Vier Sekunden, die eine Katastrophe auslösen. Sein Flugzeug kollidiert mit zwei anderen Jets, sie stürzen sofort ab, jenseits der Tribüne. Die Solomaschine aber schlägt auf der Landebahn ein und explodiert, nur 50 Meter von Wenzel entfernt.

Flugzeugteile, Menschen, Feuer

Eine abgebrochene Tragfläche schießt auf ihn zu. Wenzel sieht, wie sie die Menschen vor ihm "abmäht", so nennt er das. Er kann nicht mehr atmen, so heiß brennt die Luft in seiner Kehle, vom Himmel prasseln Schrauben, auf der Haut fühlen sie sich an wie Kugeln, Wrackteile schleudern durch die Luft. Wenzel lässt Kamera und Tasche fallen, er schreit: "Weg!", rennt hinter den Lastwagen. Vor ihm schlagen die Reste des abgestürzten Flugzeugs ein. Flammen. Explosionen.

Seine Freundin Karin sieht er nicht mehr. Nie mehr.

25 Jahre später sitzt Thomas Wenzel bei einer Tasse Kaffee auf dem Sofa in seinem Wohnzimmer im fränkischen Aurach. Spitzengardinen hängen an den Fenstern, auf einer Anrichte steht ein Bild seines Sohnes, daneben eine Buddha-Figur. Wenzel zeigt Fotos auf dem Laptop. Mit dem Cursor fährt er über das zerquetschte Führerhaus des Lastwagens, hinter dem sie damals saßen, über die zusammengeschmolzenen Klappstühle, daneben im Gras liegt eine Leiche, die Mutter der Freunde. Auch sie stirbt bei dem Unglück. Und da ist die Ledertasche von Karin, die er wiederbekommen hat, nachdem die Polizei ihre Leiche identifiziert hatte.

"Es wird nicht mehr so eine heile Welt werden"

Auf dem Tisch liegt ein aufgeschlagenes Fotoalbum. Die ersten Seiten zeigen einen Mann Anfang 20 mit rötlichem Haar, neben ihm eine hübsche Frau. Sie lächelt. Man sieht das Paar im Urlaub, unterwegs mit Freunden und zuletzt ausgelassen auf einem Open-Air-Konzert - die Seiten dahinter sind leer. Thomas Wenzel blättert zum Ende. Da kleben die Bilder, ein jedes einzeln auf einer ganzen Seite: Sie zeigen drei Düsenjets, die durch die Luft jagen. Wenzel sagt: "Das ist der Abschluss unseres Lebens." Wenn er sich die Bilder ansieht, ist er wieder in Ramstein. Er hört die Schreie der Verletzten. Er riecht, was er nie vergessen wird: ein Gemisch aus Kerosin und verbranntem Fleisch. Er sieht Menschen, die am Boden liegen, ihre Haut scheint in der Hitze des Feuers zu schmelzen. Im Chaos sucht er nach Füßen mit flachen Wildlederschuhen, er sucht nach Karin. Aber am Boden findet er nur schwarze, gesichtslose Körper.

Erst Tage später erfährt Wenzel, dass seine Karin zu den 34 Menschen gehört, die direkt am Unglücksort starben - bei einem der schwersten Flugunglücke der deutschen Nachkriegsgeschichte. Insgesamt fordert die Katastrophe 70 Menschleben, etwa 450 Personen werden schwer verletzt. Die, die Glück haben und überleben, bleiben traumatisiert zurück. Mehr als zwei Jahrzehnte sind seitdem vergangen. Thomas Wenzel hat ein neues Leben - und trotzdem ist das alte nicht vorbei. Er ist jetzt 48 Jahre alt, arbeitet als Prüftechniker, ist verheiratet und hat einen elfjährigen Sohn. In einem Neubaugebiet hat sich die Familie ein Haus geleistet, ruhig ist es hier, idyllisch. Aber Wenzel weiß: "Es wird nicht mehr so eine heile Welt werden."

Die Angst begleitet ihn noch heute

Seit dem Unglück leidet er an einer Schocklunge, das Organ kann sich nicht mehr selbst reinigen, oft entzünden sich die Bronchien, auch seine Stimmbänder hat die Hitze verletzt. Aber das sind nur die körperlichen Wunden.

Viel schlimmer ist die Angst. Manchmal, wenn er im Café sitzt oder im Park, so denkt er: "Jetzt scheppert' s gleich und alle Leute sterben um mich rum." Nach der Katastrophe suchte er sich psychologische Hilfe. Drei Jahre lang konnte er auf kein Grillfest gehen, der Geruch von Spiritus und gegrilltem Fleisch setzte ihm zu: "Das war jedes Mal, als würde ich die Meinigen riechen." Nachts schlief er nicht länger als vier Stunden durch, die Albträume kamen pünktlich. Und fast jede Nacht sah er Karin vor sich. Die Schuldgefühle und die Selbstvorwürfe, sie nicht gerettet, vielleicht übersehen zu haben, zermarterten ihn. Erst zehn Jahre später kam er an ihren Autopsie-Bericht - und konnte loslassen: Karin ist sofort tot gewesen.

Seinem Sohn hat er erzählt, dass es in Ramstein einen Unfall gab und dass der Papa auch dort gewesen ist. Was genau passiert ist, weiß der Junge nicht. "Ich will ihn damit nicht konfrontieren", sagt Wenzel. Aber verstecken kann er nicht, was da in seinem Inneren kaputtgegangen ist. Manchmal kommen abends die Nachbarskinder und wollen mit seinem Sohn Fahrrad fahren. Dann kriecht sie wieder hoch in ihm: die Angst. "Da ist immer dieses Gefühl, dass ihm etwas passieren könnte." Seine Frau sagt dann: "Jetzt lass dem Jungen doch seine Freiheiten, der muss doch leben." Er reißt sich zusammen, weil er weiß: "Die Angst darf nicht wieder die Kontrolle übernehmen." Abschütteln kann er sie in solchen Momenten jedoch nicht.

Das Telefon klingelt. Wenzel springt auf, eilt in die Küche. Seine Frau ist dran. Mit dem Sohn ist sie auf dem Weg nach Nürnberg, es kann später werden. Wenzel nickt, bevor er auflegt, sagt er noch schnell: "Und bitte: pass auf!"

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