Katastrophe in Duisburg 2010:Zweifel an zentralem Loveparade-Gutachten

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Die Besucher drängten sich in und vor dem Tunnel zum Veranstaltungsgelände in Duisburg, 21 Besucher starben, mehr als 500 wurden verletzt.

(Foto: Erik Wiffers/AFP)

Vier Jahre nach der Massenpanik bei der Loveparade in Duisburg gibt es Kritik an dem Gutachten, auf das sich die Staatsanwaltschaft bei ihren Ermittlungen stützte: Es soll eine Mitarbeiterin beteiligt gewesen sein, die gleichzeitig für das Innenministerium arbeitete. Ein Interessenkonflikt?

Von Bernd Dörries, Düsseldorf

Vor einem Jahr wurde Sabine Funk in einem Interview gefragt, was die Loveparade denn für Folgen gehabt hätte, für sie und ihre Firma. "So traurig das ist, seitdem konnten wir uns vor Aufträgen kaum retten." Funk hat früher kleinere und größere Veranstaltungen organisiert und dann in England crowd and safety management studiert. Sie präsentiert sich als eine der wenigen Experten in Deutschland auf diesem Gebiet.

Nach der Katastrophe auf der Loveparade 2010 mit 21 Toten wollte plötzlich das ganze Land wissen, wie man Veranstaltungen sicherer macht: Städte, Behörden und Feuerwehren, alle wollten erfahren, wie sie bedenkenlos feiern können. Funk gab Auskunft und war gut im Geschäft, zu ihrer Firma Wissenswerk in Bonn kam noch das Internationale Bildungs- und Trainingszentrum für Veranstaltungssicherheit. Vielleicht war es etwas viel, vielleicht hat Funk den Überblick verloren, für wen sie alles tätig ist.

Mit Keith Still, Professor an ihrer ehemaligen Uni in England, arbeitete sie nach Informationen der Süddeutschen Zeitung am Gutachten zu den Ursachen der Loveparade - auf dem letztlich die gesamte Anklage der Staatsanwaltschaft gegen zehn Beschuldigte aufbaut. Funk selbst sagt dazu, sie habe nur organisatorische Hilfe geleistet. "Natürlich haben wir auch über die Thematik an sich diskutiert." Gleichzeitig saß sie in einer Arbeitsgruppe des Innenministeriums, die sich ebenfalls mit der Loveparade beschäftigt, mit den Folgen für Großveranstaltungen. Öffentlich machte sie diesen möglichen schweren Interessenkonflikt gegenüber den Ermittlern nicht.

Politisierte Ermittlungen

Die jahrelangen Ermittlungen zur Katastrophe auf der Loveparade gelten als zutiefst politisiert. Innenminister Ralf Jäger (SPD) sprach seine Beamten unmittelbar nach der Katastrophe von jeglicher Verantwortung frei, es seien keine Fehler gemacht worden. Und so ist es für manche Hinterbliebene auch kein Zufall, dass kein Polizist angeklagt wurde: Sechs Mitarbeiter der Stadt beschuldigt die Staatsanwaltschaft Duisburg der fahrlässigen Tötung und vier Angestellte des Veranstalters Lopavent.

Dabei gab es durchaus Verdachtsmomente gegen die Polizei: Als sich in Duisburg die Menschen im Tunnel drängten, errichtete die Polizei an mehreren Stellen Ketten, um die Massen zu kontrollieren - und erreichte damit womöglich das Gegenteil. In ihrem Gutachtenauftrag wollte die Staatsanwaltschaft genau diese Frage beantwortet haben: "Wir können nicht darüber spekulieren, warum diese Polizei-Positionen bezogen wurden", schreibt Still ziemlich lapidar.

Wollte man sich das gute Verhältnis zum Innenministerium nicht kaputt machen, in dessen Auftrag seine Mitarbeiterin Sabine Funk gleichzeitig tätig war?

"Es ist ausgeschlossen, dass Frau Funk trotz ihrer Tätigkeit für das Innenministerium die für ein Gutachten im Strafverfahren erforderliche Unvoreingenommenheit mit sich bringt", sagt Rechtsanwalt Björn Gercke aus Köln, der den Beschuldigten Kersten S. vom Veranstalter Lopavent vertritt. "Dass ihre Teilnahme verschwiegen wurde, spricht bereits Bände." Gercke hat beim Landgericht Duisburg beantragt, die Eröffnung des Hauptverfahrens abzulehnen.

Der Prozess stünde damit vor dem Aus, noch bevor er begonnen hat.

Ob es dazu kommt, ist eine andere Frage. Die Mitarbeit an Gutachten muss aber üblicherweise gekennzeichnet werden. Im Standardwerk von Jürgen Ulrich heißt es zu gerichtlichen Sachverständigen, dass, "die Tätigkeit des Sachverständigen (. . . ) ihrer Natur nach eine höchstpersönliche und damit unvertretbare Arbeit darstellt". Der Gutachter dürfe seinen Auftrag also nicht an Mitarbeiter weiterreichen. Es gibt höchstrichterliche Urteile, die Gutachten für unverwertbar halten, weil Mitarbeiter nicht ausgewiesen wurden. "Für die Verfahrensbeteiligten ist es nicht nachvollziehbar, welchen Umfang die Mitarbeit von Frau Funk hatte", schreibt Rechtsanwalt Gercke an das Gericht.

In den Ermittlungsakten taucht sie zumindest ziemlich oft auf, ein großer Teil des E-Mail-Verkehrs zwischen der Staatsanwaltschaft Duisburg und dem englischen Gutachter läuft über sie, bei Ortsterminen wird sie als Mitarbeiterin eingeführt. Sie unterzeichnet eine Verpflichtung zur Verschwiegenheit. Gleichzeitig arbeitet sie in einer Arbeitsgruppe von Innenminister Jäger, dem obersten Dienstherr der Polizei. Ein Konflikt? Nein, sagt Sabine Funk. "An der Erstellung des Gutachtens war ich gar nicht beteiligt." Sie habe Still lediglich zu Terminen gefahren. Die Arbeitsgruppe beim Ministerium habe sich "explizit" nicht mit der Loveparade beschäftigt, sondern mit den Folgen für Großveranstaltungen. Funk wurde von der Staatsanwaltschaft zur Verschwiegenheit verpflichtet, äußerte sich aber im Deutschlandradio freimütig zur Ursache der Loveparade: "Duisburg war ja keine Massenpanik."

Ein Gegengutachten attestiert den Verfassern methodische Fehler

Der mögliche Interessenskonflikt ist aber nicht das einzige Problem des Gutachtens. Es ist der zentrale Punkt in der Anklage, wirkt aber recht schlampig. Zehn Monate hatten Still (und Funk) gebraucht, um auf die Fragen der Staatsanwaltschaft zu antworten. Und dies so ungenau getan, dass die Duisburger Ermittler nur wenige Tage nach Eingang um Präzisierung baten. Wieder verging viel Zeit, zwei Jahre nach dem ersten Auftrag waren die knapp hundert Seiten fertig.

Sie entsprächen nicht dem Stand der Technik, kritisiert Armin Seyfried, der sich als Professor am Forschungszentrum Jülich mit Massenunglücken beschäftigt und im Auftrag von Verteidiger Gercke das Gutachten von Still untersucht hat - und von gravierenden Fehlern spricht. Obwohl die Loveparade durch Dutzende Kameras und Luftbilder das mit am besten dokumentierte Unglück war, verlasse sich Still auf theoretische Annahmen. Dass der sich allein auf Besucherzahlprognosen gestützt habe, sei methodisch mangelhaft. Für die Ermittlung von Ursachen wäre eine Zählung anhand von Videos notwendig gewesen. Die liegen zu Hunderten bei der Staatsanwaltschaft, seien von Still aber nicht ausgewertet worden.

Der beschreibt in seiner Arbeit zwar, wie es im Zugangstunnel und an der Rampe auf dem Veranstaltungsgelände zum Gedränge kommt, warum Menschen sterben mussten, darauf geht Still aber nicht direkt ein. Aus Sicht von Gegengutachter Seyfried auch, weil es bis heute keine seriösen Modelle gebe, um zu erklären, wann aus einem einfachen Stau ein gefährliches Gedränge werde.

Der Loveparade-Prozess wird wohl vor allem ein Kampf der Gutachter.

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