Kanadische Inselbewohner auf Ahnensuche:Plötzlich Indianer

Auf einmal wollen sie alle Ureinwohner sein: Nach jahrzehntelangem Ringen erkennt Kanada seit kurzem das auf Neufundland beheimatete Volk der Mi'kmaq an. Registrierte Indigene erhalten dadurch Anspruch auf Hilfsgelder. Nun durchforsten auch Tausende Bleichgesichter ihre Ahnengalerie nach indianischen Vorfahren.

Bernadette Calonego

Seltsam, was sich derzeit in den ostkanadischen Jagdgründen abspielt. Jahrzehntelang hat die kanadische Regierung Indianer in der Provinz Neufundland nicht anerkannt, da nie ein Vertrag abgeschlossen wurde - weshalb die Ureinwohner von Neufundland auch keine finanzielle Hilfe erhielten wie andere kanadische Indianer. Jetzt will Ottawa das Versäumnis endlich nachholen. Gleichzeitig machen sich Zehntausende weiße Neufundländer auf die Suche nach ihren indianischen Vorfahren - und finden sie auch.

Kanadische Inselbewohner auf Ahnensuche: "Hohe Wangenknochen und pechschwarzes Haar": Der Kanadier Keith Cormier reagierte höchst erstaunt, als er herausfand, dass seine Großmutter Madeleine (rechts im Bild) Mi'kmaq-Indianerin war. Seine Vorfahren hatten ihre Identität stets geheimgehalten. Das Nova Scotia Museum dokumentiert die Geschichte dieses fast vergessenen Volkes.

"Hohe Wangenknochen und pechschwarzes Haar": Der Kanadier Keith Cormier reagierte höchst erstaunt, als er herausfand, dass seine Großmutter Madeleine (rechts im Bild) Mi'kmaq-Indianerin war. Seine Vorfahren hatten ihre Identität stets geheimgehalten. Das Nova Scotia Museum dokumentiert die Geschichte dieses fast vergessenen Volkes.

(Foto: Nova Scotias Museum)

Offenkundig gibt es in der Provinz viel mehr Indianer, als die Regierung sich träumen ließ. Überall erscheinen nie gekannte oder gut versteckte indianische Ahnen in den Stammbäumen. Ausgelöst hat dieses Phänomen ein im September gegründeter Stamm. Der Qalipu-Stamm ist das Sammelbecken von Mi'kmaq-Indianern und jetzt auch von Bleichgesichtern, durch deren Adern indianisches Blut fließt. Wenn auch sehr verdünnt.

Ob die Zuschüsse aus Ottawa locken oder die Chance, ein echter Ureinwohner zu sein - Tatsache ist, dass sich Zehntausende Neufundländer als Stammesmitglieder beworben haben. Häuptling Brendan Sheppard freut sich: "Wenn die Anmeldefrist im November 2012 ausläuft, könnten die Qalipu der größte Indianerstamm Kanadas sein." Unter den Anwärtern ist auch Keith Cormier, 60, Finanzberater aus Corner Brook. Er hätte sich nie träumen lassen, dass er einmal auf einer Bühne ein Weihnachtslied in der Sprache der Mi'kmaq singen würde. Fast sein ganzes Leben lang hat er sich für einen Weißen gehalten - bis ihm ein Cousin eröffnete: Du bist ein Indianer. Der Cousin, Regierungsbeamter im Ruhestand, hatte herausgefunden, dass die Familie indianische Vorfahren hat. Cormier fiel aus allen Wolken. "Ich war verblüfft und benommen", sagt er.

Kein Wunder. Neufundland gilt als irischster Ort der Welt außerhalb Irlands. Und viele Indianer gab es auf dieser Insel, die so groß ist wie Bayern, auch nicht unbedingt. Daran waren die Bleichgesichter schuld. Der Stamm der Beothuk-Indianer wurde im 19. Jahrhundert im Zuge der Besiedelung durch die Europäer ausgelöscht. Übrig blieb nur ein Häufchen Mi'kmaq-Indianer. Als Neufundland 1949 als letzte Provinz zu Kanada stieß, taten die Weißen so, als gehöre ihnen die Insel. Die Mi'kmaq wurden im Abkommen mit der kanadischen Regierung nicht mal erwähnt. "Sie wurden praktisch aus der Geschichtsschreibung getilgt", sagt die Anthropologin Angela Robinson aus Corner Brook.

Seither kämpften diese Indianer, die sich oft mit den Weißen vermischten, darum, von der Regierung in Ottawa als Stamm anerkannt zu werden und Unterstützung zu erhalten. Kanadischen Indianern bezahlt die Regierung etwa die Studiengebühren der Kinder oder die Kosten für Zahn- und Augenarzt. Vor vier Jahren machte Kanadas Regierungschef Stephen Harper dann den ersten Schritt in Richtung Anerkennung. Damals rechneten die Behörden mit rund 8700 Indianern in Neufundland. Zwei Monate nach der Stammesgründung der Qalipu sind aber schon mehr als 21 000 Bürger offizielle Stammesmitglieder.

Voraussetzung ist, dass man indianische Vorfahren nachweisen kann, die vor 1949 in Neufundland lebten. Seither werden fieberhaft Stammbäume erstellt, Geburtsregister ausgegraben und Verwandte befragt. Von einer "Kettenreaktion" spricht Angela Robinson. Auch Keith Cormiers drei Söhne gelten heute als registrierte Qalipu-Indianer, die zum Volk der Mi'kmaq gehören. "Sie haben kein Problem damit", sagt er. Cormiers Großmutter, so stellte sich heraus, war eine Vollblut-Indianerin: "Auf Fotos, die sie als junge Frau zeigen, sind tatsächlich indianische Züge zu erkennen, hohe Wangenknochen und pechschwarzes Haar." Ihr Vater war ein Mi'kmaq, die Mutter eine Innu-Indianerin aus Labrador, das heute zu Neufundland gehört. Auf eine Frage hat Cormier aber immer noch keine Antwort: "Warum haben das meine Vorfahren geheim gehalten?" Er glaubt, dass es die Angst vor Diskriminierung war: Sein weißer Großvater hätte seinen Job als Vorarbeiter im Sägewerk verlieren können.

Diese Zeiten sind vorbei. Neufundländer mit Namen wie Mitchell, White oder Young sind Mitglieder der Qalipu-Gemeinschaft geworden. Doch eine Kontroverse gibt es auch heute noch: Manche Historiker sagen, es gebe keinerlei Beweise dafür, dass die Mi'kmaq schon vor den Europäern auf Neufundland gelebt hätten, wie die Indianer behaupten. Darüber hinaus stellt sich die Frage, warum so viele Neufundländer plötzlich Indianer sein wollen. Sind es doch die Hilfsgelder der Regierung für registrierte Indianer, wie die Zeitung National Post spekulierte? Deren Leser wurden in Online-Kommentaren noch deutlicher: "Wenn es kein Geld oder Vorteile zu gewinnen gäbe, würde niemand hervortreten und sich als Nachkomme der Mi'kmaq zu erkennen geben", schrieb ein Leser.

Die Regierung in Ottawa rechnet schon jetzt mit Mehrkosten von mindestens 37 Millionen Euro jährlich. Keith Cormier schlägt indes die Trommel und nimmt an Pow-wows teil. Er sagt: "Eine neue Welt hat sich für mich aufgetan."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: