Kanada:Ein Bruder ist tot, der andere flüchtig

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Die Provinz Saskatchewan, in der sich der flüchtige Verdächtige vermutlich aufhält, ist riesig und dünn besiedelt. Die Polizei hofft, dass er medizinische Hilfe aufsuchen wird. (Foto: Lars Hagberg/AFP)

In Kanada wird einer der Männer tot aufgefunden, der die tödliche Messerattacke begangen haben soll. Solche Taten sind in Kanada äußert selten. Das Motiv ist weiterhin unklar.

Von Christian Zaschke

Die große Frage, die sich viele Menschen in Kanada derzeit stellen, lautet: Warum? Warum haben die Brüder Myles und Damien Sanderson im Zuge einer Messerattacke am Sonntag mutmaßlich zehn Menschen getötet und 18 verletzt? Und was ist am Montag passiert, als die Polizei Damien Sanderson tot auffand und mitteilte, es sehe nicht so aus, als habe er sich die Verletzungen, die zu seinem Tod führten, selbst zugefügt? Myles Sanderson ist immer noch auf der Flucht.

Das Verbrechen fand in der Provinz Saskatchewan statt, einer riesigen, dünn besiedelten Gegend im Westen Kanadas. Sanderson dort zu finden könnte sich als schwierig erweisen. Die Polizei hofft, dass er womöglich medizinische Hilfe suchen werde, da er sich in einem Kampf mit seinem Bruder verletzt haben könnte. Es ist jedoch vollkommen unklar, ob der 30 Jahre alte Myles Sanderson für den Tod seines 31 Jahre alten Bruders Damien verantwortlich ist.

Mehrere kanadische Medien berichteten, Myles Sanderson sei der Polizei seit mehr als zwei Jahrzehnten immer wieder aufgefallen und als Erwachsener über Jahre hinweg in insgesamt 59 Punkten verurteilt worden. Darunter seien Tätlichkeiten, Gewaltdrohungen und Diebstähle gewesen. Er habe seit seiner Kindheit mit Alkohol- und Drogenproblemen gekämpft und bereits als 14-Jähriger Kokain genommen, schrieben diverse Medien unter Berufung auf die Bewährungsakte Sandersons vom Februar.

Die Namen der Toten wurden zunächst nicht veröffentlicht. Klar ist lediglich, dass es sich offenbar zum Teil um Mitglieder der James Smith Cree Nation handelt, also um kanadische Ureinwohner. Die meisten Toten stammen aus einem Dorf namens Weldon, in dem rund 160 Menschen leben. Kanadische Medien berichten, dass viele Dorfbewohner nach der Tat zum ersten Mal in ihrem Leben ihre Haustür abgesperrt hätten.

In Kanada sind solche Attacken selten

In den USA gibt es beinahe wöchentlich Nachrichten von tödlichen Attacken, meist mit Schusswaffen. Das Land ist diesbezüglich ziemlich abgestumpft, nach ein, zwei Tagen der Trauer und der Empörung geht es in der Regel zur Tagesordnung über. In Kanada passiert so etwas ausgesprochen selten. Umso größer ist daher der Schock. Premierminister Justin Trudeau sagte: "Diese Art von Gewalt oder jede andere Form von Gewalt hat keinen Platz in unserem Land." Die Tat sei "schockierend und herzzerreißend". Am Peace Tower in der Hauptstadt Ottawa sowie in der Provinz Saskatchewan wehten die Flaggen auf halbmast.

Besonders verstörend ist, dass derzeit noch immer so viele Fragen offen sind. Es gibt nicht einmal Spekulationen darüber, was das Motiv für die Attacke sein könnte. Die Polizei vermutet, dass manche Menschen gezielt angegriffen wurden, andere hingegen willkürlich. Aber auch in diesem Fall gilt: Das ist bloß eine Vermutung.

Hunderte Polizistinnen und Polizisten durchkämmen derzeit die Gegend. Permanent sind Hubschrauber in der Luft. Die Bewohner Saskatchewans hat die Polizei zu erhöhter Wachsamkeit aufgefordert. Manchen sagten die Beamten, sie sollten einstweilen in ihren Häusern bleiben, bis der mutmaßliche Täter gefasst sei. Die Provinz ist so groß wie Frankreich, die Benelux-Staaten und die Schweiz zusammengenommen, es leben dort jedoch lediglich etwas mehr als eine Million Menschen. Rund 13 Prozent der Bevölkerung von Saskatchewan sind Indigene.

"Wir werden einander helfen zu trauern und zu heilen"

Die indigene Bevölkerung Kanadas stand zuletzt im Fokus, nachdem bekannt geworden war, dass ab dem späten 19. Jahrhundert Tausende Kinder von Ureinwohnern von den kanadischen Behörden zwangsweise in Internate gebracht wurden. In diesen Internaten, oft von katholischen Orden geleitet, wurden die Kinder gedrillt und teils misshandelt. Die Sterberate war hoch, an manchen dieser Schulen fanden sich Massengräber. Erst vor wenigen Wochen war der Papst in Kanada, um sich für die Beteiligung der katholischen Kirche an diesen Taten zu entschuldigen.

Premierminister Trudeau sagte, dass die Kanadierinnen und Kanadier nun zusammenstehen müssten. "Wir werden füreinander da sein. Wir werden einander helfen zu trauern und zu heilen", sagte er. Nach Myles Sanderson wurde am Dienstagabend immer noch gesucht.

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