Kalifornien:Gefangen in Perris

Kalifornien: Fernsehkameras vor dem Haus in Perris, Kalifornien, in dem Eltern ihre 13 Kinder gefangen hielten.

Fernsehkameras vor dem Haus in Perris, Kalifornien, in dem Eltern ihre 13 Kinder gefangen hielten.

(Foto: AFP)

Ein Ehepaar sperrt jahrelang seine 13 Kinder ein, die Nachbarn wollen nichts mitbekommen haben. Auf Spurensuche in einer kalifornischen Kleinstadt.

Von Jürgen Schmieder, Perris

Was einem bei der Ankunft in der Muir Woods Road in der kalifornischen Kleinstadt Perris sofort auffällt, das ist dieser Ice Cream Truck. Die mobilen Eisverkäufer sind Bestandteil der Frohsinn-Kultur in diesem Bundesstaat, also kommen ein paar Kinder angerannt und versorgen sich mit frischen Süßigkeiten. Es ist dennoch grotesk, dieses Gefährt mit der fröhlichen Musik ausgerechnet am Dienstagmorgen in dieser Straße zu sehen, wo sich ein unvorstellbares Verbrechen ereignet hat.

Hier, in der Muir Woods Road, in einem heruntergekommenen Haus gleich am Anfang dieser Sackgasse am Ortsrand, haben Louise und David Turpin ihre 13 Kinder jahrelang gefangen gehalten und sie verwahrlosen, verkommen und beinahe verhungern lassen. Die 17 Jahre alte Tochter flüchtete am Sonntag durch ein Fenster, nahm Beweisfotos und ein deaktiviertes Handy mit, das Notrufe erlaubte. Um sechs Uhr morgens verständigte sie die Polizei.

"Das war Folter", sagt Greg Fellows, der Polizeichef von Perris, am Dienstag. Es habe bestialisch gestunken, bei der Ankunft der Beamten seien drei Kinder mit Vorhängeschlössern an Betten festgekettet gewesen. "Ich habe so was wie dieses Haus noch nie in meinem Leben gesehen", so der Polizist.

Die Eltern, sie 49, er 56 Jahre alt, sind mittlerweile verhaftet worden und sollen erklären, wie und warum sie das alles getan haben - bei den ersten Befragungen hätten sie keine zufriedenstellenden Antworten geben können, am Mittwoch werden sie dem Richter vorgeführt. "Die Mutter war völlig perplex, als wir an die Tür geklopft haben. Es sind noch viele Fragen offen, aber wir werden Antworten bekommen", sagt Fellows.

Die Kinder, zehn Mädchen und drei Jungen im Alter zwischen zwei und 29 Jahren, werden derzeit im 50 Kilometer entfernten Corona Regional Medical Center versorgt. Gerade die Älteren, so heißt es dort, würden aufgrund ihrer Verwahrlosung deutlich jünger wirken. "Sie sind freundlich und aufgeschlossen, sie hoffen auf ein besseres Leben", sagt Krankenhaus-Chef Mark Uffer. Er sagt aber auch: "Ich habe so was wie diese Kinder in meinem Leben noch nicht gesehen."

Wenn extreme Fälle familiärer Gewalt ans Licht kommen, heißt es stets, die Stadt befinde sich im Schockzustand. Für Perris gilt das eher nicht. Es scheint, als wäre die restliche Welt schockierter als die Leute in dieser 70 000-Einwohner-Stadt, anderthalb Autostunden südöstlich von Los Angeles. Hier sind sie eher genervt, dass nun so viele Journalisten in der Stadt sind. "Was sollen wir denn schon sagen? Das sind unsere Nachbarn, doch wir kennen sie nicht", sagt Keyla Redd, die schräg gegenüber wohnt. Man merkt, dass sie diese Sätze schon ein paar Mal gesagt hat und nun routiniert vorträgt.

Eine Nachbarin spricht über die Tat, aber eigentlich spricht sie über sich selbst

Die meisten Nachbarn haben Schilder aufgehängt mit der handgeschriebenen Bitte, sie doch bitteschön in Ruhe zu lassen. Kein Wunder, etwa 50 Journalisten klopfen an Haustüren, über dem Haus der Turpin-Familie surren zwei Drohnen, darüber dreht ein Hubschrauber stundenlang Runden. Es wirkt beinahe so, als hätten die Bewohner der Straße Redd, 23, und Kimberly Milligan, 50, als Sprecherinnen der Nachbarschaft bestimmt. Milligan gibt auf der anderen Straßenseite Interviews und scheint fürs Fernsehen zuständig zu sein, Redd kümmert sich um die schreibenden Reporter.

Redd spricht über diese unvorstellbare Tat, doch eigentlich spricht sie über sich selbst. Ihre Sätze sind weniger eine Auskunft als vielmehr ein Exkulpieren, weil natürlich jeder wissen will: Hat denn keiner bemerkt, dass da ein Ehepaar 13 Kinder gefangen hält? Das kann doch nicht möglich sein! In einer Kleinstadt wie Perris, in einer Straße wie der Muir Woods Road, in der es genauso aussieht, wie sich ein Deutscher eine amerikanische Kleinstadt vorstellt: immergleiche Einfamilienhäuser mit US-Flagge an der Hauswand und Basketballkorb in der Einfahrt. Was die Häuser unterscheidet, sind die verschiedenen Brauntöne. Ansonsten ist alles derart identisch, dass sich sofort verirrt, wer ein Mal falsch abbiegt.

"Im Nachhinein könnte man natürlich sagen, dass einem ein paar Dinge aufgefallen sind", sagt Redd: "Doch für sich betrachtet und ohne Hinweis auf eine schreckliche Tat waren es eben nur Anzeichen dafür, dass die Familie ihre Ruhe haben möchte." An Halloween etwa, vor zwei Monaten, da sei der Vater mit einem Kruzifix bewaffnet vor der Haustür gestanden, habe in der Einfahrt ein Lagerfeuer angezündet und dafür gesorgt, dass sich dem Haus niemand nähert, nicht einmal verkleidete Kinder, die nach Süßigkeiten fragen wollten. "Wer nicht weiß, dass der dort 13 Kinder gefangen hält, der denkt sich dann: Okay, will er halt nichts mit diesem Feiertag zu tun haben", sagt Redd.

Sie zählt dann noch mehr Beispiele auf. Vor einigen Jahren habe sie drei der Kinder für ihre gelungene Weihnachtsdekoration loben wollen. "Sie haben nichts gesagt, sondern uns nur angestarrt, als wären wir Geister", sagt Redd. Oder dieser Abend, an dem einige Kinder bis Mitternacht im Garten gearbeitet hätten. "Sollen wir deshalb die Polizei rufen?", fragt Redd: "Die Eltern waren niemals unfreundlich oder unflätig - sie haben lediglich den Eindruck vermittelt, dass sie in Ruhe gelassen werden möchten. Ich denke nicht gerne schlechte Dinge über andere Leute."

Ein anderes Kalifornien

Passen die Leute nicht mehr aufeinander auf? Noch nicht mal mehr in Kleinstädten wie Perris? Im fröhlichen sonnigen Kalifornien? Wer hier als Tourist herkommt, der fährt meist die Pazifikküste runter, von San Francisco nach Los Angeles oder San Diego, er hält in den Millionärsdörfern Monterey und Huntington Beach an, spielt Golf in Carlsbad oder surft in Oceanside. Und dann glaubt er, dass er das Lebensgefühl der Einheimischen verinnerlicht hat. Es gibt aber noch dieses andere Kalifornien, dessen Städte mindestens 40, 50 Kilometer von dieser Küste entfernt sind. Sie heißen Chino und Fresno und Bakersfield. Oder eben Perris.

In solchen Städten spielen Folgen der Mystery-Serie X-Files, es könnte auch die nächste Staffel von True Detective hier gedreht werden, so trübe und trostlos sieht es hier aus. Die amerikanische Bezeichnung "Middle of Nowhere" ist zu nett, das deutsche "Arsch der Welt" trifft es besser. In Perris wohnen Leute, die hier geboren sind - oder wegen der wahnwitzig niedrigen Immobilienpreise hierher ziehen. In der Muir Woods Road steht gerade ein 350-Quadratmeter-Haus, drei Jahre alt, mit Pool und riesigem Garten, für 320 000 Dollar (260 000 Euro) zum Verkauf.

Wer ins kalifornische Hinterland zieht, der wundert sich zunächst über den Gleichmut der Nachbarn. Alle nett und hilfsbereit, Leben und Leben lassen, das ist erst einmal wunderbar unaufgeregt. Es ist aber auch eine Kultur der Ignoranz, weil sich niemand für das Leben der anderen interessiert. Wer nur auf sich schaut, der schaut automatisch auch immer von anderen weg.

Das Ehepaar Turpin, das zuvor im Bundesstaat Texas und in der 25 Kilometer entfernten 110 000-Einwohner-Stadt Murrieta gelebt hatte, kam 2014 nach Perris und nutzte diese Ignoranz für seine Zwecke. Es gründete die Schule Sandcastle Day School. Rektor war Vater David, die einzigen Schüler die sechs schulpflichtigen Kinder. In Kalifornien kann jeder eine Privatschule eröffnen, der ein Formular ausfüllen kann - in Texas braucht es noch nicht einmal das. Die für die Schule zuständige Behörde teilt mit, es habe bis Sonntag keinen Grund zur Besorgnis gegeben. Allerdings: Die Schule sei in den vergangenen sieben Jahren kein einziges Mal kontrolliert oder überprüft worden.

David Turpin soll als Ingenieur beim Rüstungsunternehmen Northrop Grumman mehr als 140 000 Dollar pro Jahr verdient haben. Seine Frau Louise war Hausfrau. Es heißt nun, dass die Familie verschuldet gewesen sei und bereits zwei Mal Privatinsolvenz angemeldet habe. "Sie wirkten dennoch wie eine normale Familie, die aufgrund der vielen Kinder Finanzprobleme hatte", sagt Anwalt Ivan Trahan, der die Turpins während der Insolvenz im Jahr 2011 vertreten hat: "Beide Ehepartner wirkten gefestigt und sprachen nur liebevoll von ihren Kindern. Es gab keinen Grund zur Sorge." Offenbar doch: Polizeichef Fellows will nicht spekulieren, sagt aber, dass die Verwahrlosung des Hauses immens gewesen sei: "Meine Beamten sind noch immer völlig perplex, wie es dort ausgesehen hat."

Es stinkt tatsächlich

Es gibt Fotos der Familie bei Facebook: Die Turpins in Disneyland. Das Ehepaar Turpin in einer Kapelle in Las Vegas zum Erneuern des Eheversprechens, umringt von den Kindern. Die Turpins verkleidet als Figuren der bekannten Comicserie "Thing One and Thing Two". Die Kinder sehen darauf so aus, als dürften sie gleich zum Eislaster stürmen und Süßigkeiten kaufen. Wer bei Facebook glücklich ist, der ist es auch im wahren Leben. Oder etwa nicht?

In Perris sprechen sie nun alle über die Turpins, sie sprechen aber immer auch über sich selbst. Die Eltern des Vaters etwa. Betty und James Turpin sagen, sie seien "überrascht und schockiert", hätten aber nichts bemerkt. Die Kinder seien für das Ehepaar Geschenke Gottes gewesen, sie hätten die Familie aber seit mehr als vier Jahren nicht mehr gesehen. Der Bürgermeister von Perris, Michael Vargas, sagt: "Das hier ist eine fröhliche Familienstadt, in der die Leute aufeinander aufpassen. Alle Einwohner sind am Boden zerstört über die Grausamkeit, die sich hier abgespielt hat."

Wer dem Haus der Familie Turpin nahekommt, der bemerkt tatsächlich: Es stinkt. Vielleicht stinkt es auch nur deshalb, weil einem vorher gesagt wurde, dass es stinken würde. Vom Gehsteig aus riecht es völlig normal. Es sieht auch völlig normal aus. Ein gewöhnliches Haus in einer gewöhnlichen Straße in einer gewöhnlichen Stadt. Als die Sonne untergeht in Perris, Kalifornien, da kommt der Eislaster noch einmal vorbei. Diesmal kommt niemand auf die Straße. Die Leute sind in ihren Häusern und kümmern sich um ihre eigenen Angelegenheiten.

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