Kachelmann: Prozessauftakt:Der Ort der Wahrheit

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Die Schuld von Jörg Kachelmann wurde lange in den Medien verhandelt, bevor das nun in einem Gerichtssaal geschieht. Die Richter müssen sich von der Berichterstattung freimachen, die sensationslüstern das Image des Moderators beschädigt hat - und trotzdem ist die Justiz auf die Medien angewiesen.

Wolfgang Janisch

Vielleicht wäre es ja ein passender Einstieg, wenn Michael Seidling - sobald sich das Blitzlichtgewitter verzogen und Jörg Kachelmann seinen Platz auf der Anklagebank eingenommen hat - die Strafprozessordnung zur Hand nähme und den Paragraphen 261 vorläse. Dem Publikum, aber auch seinen Beisitzern und vielleicht sogar sich selbst, auch wenn die Vorschrift bei einem Vorsitzenden Richter wie Seidling in den tiefsten Bewusstseinsschichten sitzen dürfte. Dort steht nämlich: "Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung." Der Paragraph ist so etwas wie der Reset-Knopf des Strafprozesses: Das Verfahren gegen Kachelmann wird an diesem Montag, 9 Uhr, auf null gestellt - was vorher war, ist irrelevant.

Die Frage nach seiner Schuld verhandelten bisher die Medien - jetzt wird dies im Gerichtssaal geschehen. (Foto: dpa)

Wie kaum ein Kriminalfall zuvor ist der Vergewaltigungsvorwurf gegen Kachelmann lange vor dem ersten Prozesstag bis in die bizarrsten Details ausgeleuchtet worden. Die Hämatome am Körper des angeblichen Opfers, ihre anfänglichen Lügen, das Kachelmann'sche Geliebten-Netzwerk, seine Vorlieben im Bett: Die Ermittlungen gegen den prominenten Wettermann elektrisierten die Öffentlichkeit, und die Nachfrage wurde reichlich bedient.

Überdies bot die Unübersichtlichkeit der Faktenlage Raum genug, sich auf die eine oder die andere Seite zu schlagen: War es der Racheakt des angeblichen Opfers oder das Verbrechen eines TV-Promis? Justizopfer oder Gewaltopfer - Gutachten und Gegengutachten schienen die jeweils passenden Argumente zu liefern.

Auch ein Freispruch wird Kachelmans Image nicht retten

Es lässt sich nicht bestreiten: Die Berichterstattung brach tief in die Privat-, ja in die Intimsphäre eines Prominenten ein, der sein Privatleben bisher aus den Medien herausgehalten hat. Das ist nicht mehr zu reparieren; Kachelmann steht nun für alle Zeiten - freundlich ausgedrückt - als ein Hallodri da, der seine zahlreichen Geliebten virtuos in ein Netz aus gern gehörten Lügen eingesponnen hat. Das wird er nicht mehr los, da würde ihm kein noch so glorioser Freispruch helfen.

Der Fall Kachelmann enthält daher eine Mahnung an die Medien. Sie lautet: Der Ort der Wahrheit ist der Gerichtssaal. Dort stehen Angeklagter und Zeugen den Richtern Aug' in Auge gegenüber, dort können Staatsanwalt und Verteidiger nachhaken, dort werden am Ende alle Indizien zusammengeführt. Ermittlungsakten mögen wichtige Hinweise auf heikle Punkte der Anklage geben. Doch wie es wirklich war, lässt sich nur in der konzentrierten Situation des Gerichtssaals ermitteln. Falls überhaupt.

Der Fall Jörg Kachelmann
:Unter Verdacht

Wende im Fall Kachelmann: Nach vier Monaten in Untersuchungshaft bleibt der TV-Wetterexperte bis zu Prozessbeginn frei. Von Verdächtigungen und Anschuldigungen - eine Chronologie der Causa Kachelmann in Bildern.

Und doch: Im Großen und Ganzen war die Berichterstattung legitim. Der Anklagevorwurf wiegt schwer, auf Vergewaltigung in einem besonders schweren Fall stehen mindestens fünf Jahre Haft; und Kachelmann ist ein Promi aus der ersten Reihe (nicht etwa aus der vierten Kategorie, wie er selbst glauben machen will).

Gewiss, die Gerichte werden ausloten müssen, ob das Persönlichkeitsrecht Kachelmanns durch vorschnelle Schuldzuweisungen, durch die Preisgabe intimster Details oder durch Fotos vom Gefängnishof im Einzelfall verletzt worden ist. Dass aber das Intimleben des Herrn K. gänzlich irrelevant wäre für die Berichterstattung über ein Verbrechen, das im Bett stattgefunden haben soll - das wird man nicht behaupten können.

Aber ist das am Ende noch nichts anderes als Sensationsgier? Wenn man sich dieser Frage nähert, stellt man überrascht fest, dass diese scheinbar so trivialen Kriminalberichte einen wichtigen gesellschaftlichen Zweck erfüllen, wenigstens sagen das Rechtssoziologen. Nur aus der Zeitung, aus dem Radio oder dem Fernsehen erfährt der Bürger, wie die Justiz funktioniert - und dass sie funktioniert. Oder im Einzelfall auch Fehler macht.

Stört der "Prozess vor dem Prozess" die Wahrheitsfindung?

Juristen nennen das "positive Generalprävention". Gemeint ist damit, dass das Rechtssystem nicht allein auf dem Prinzip von Befehl und Gehorsam beruht, sondern auf die Akzeptanz des Bürgers angewiesen ist. Es mag Kachelmann wenig trösten, dass sein Fall für eine Art bundesweite Nachhilfestunde in Rechtskunde herhalten muss. Doch die Justiz braucht die Medien, sonst bleibt sie unsichtbar.

Bleibt die Frage, ob so ein medialer "Prozess vor dem Prozess" die Wahrheitsfindung im Gerichtssaal stört. Die Gefahr lässt sich nicht von der Hand weisen: Zeugen können, je länger sich die Sache hinzieht, durch die Lektüre über "ihren" Fall beeinflusst werden, denn die Erinnerung ist wankelmütig und das Gehirn ein höchst unzuverlässiges Speichermedium.

Das stellt erhöhte Anforderungen an die Professionalität des Gerichts. Was dagegen den Einfluss einer medialen Vorverurteilung auf die Richter angeht, sind die Risiken deutlich geringer. Eine Untersuchung des Mainzer Kommunikationswissenschaftlers Hans Mathias Kepplinger hat ergeben, dass die Richter zwar fast alles lesen, was über ihren Prozess geschrieben wird. Beeinflusst sehen sie sich allenfalls beim Strafmaß und so gut wie gar nicht bei der Schuldfrage. In einer medial aufgeheizten Atmosphäre kühlen Kopf zu bewahren - das müssen Richter im 21. Jahrhundert können.

© SZ vom 06.09.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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