Justizfehler:45-Jähriger sitzt sechs Monate lang unschuldig in Untersuchungshaft

Prozess Prostituiertenmord

Der bisherige Angeklagte und sein Rechtsanwalt Olaf Klemke sitzen am 26.06.2017 vor Beginn eines Prozesses in einem Gerichtssaal im Landgericht in Hildesheim.

(Foto: dpa)
  • Das Landgericht Hildesheim hat einen 45-jährigen Ingenieur freigesprochen, dem vorgeworfen wurde, eine Prostituierte erwürgt zu haben.
  • Erst vor wenigen Wochen hatte sich ein anonymer Zeuge bei der Polizei gemeldet und den Verdacht auf einen dritten Mann gelenkt.

Irgendwann fing das "Lovemobil", das auf einem Parkplatz im Landkreis Peine bei Hannover stand, merkwürdig an zu wackeln. Der Zeuge, der in seinem Auto in der Nähe gewartet hatte, schlich sich näher heran, blickte durch die Fenster und sah, wie sein 29-jähriger Freund mit einem Fuß "auf der Kehle" der Prostituierten stand. "Das war so abartig", erklärte der 41-Jährige vor dem Landgericht Hildesheim, wo der Fall der erwürgten Prostituierten verhandelt wurde. Ob sich die Tat tatsächlich so zugetragen hat, wie der Zeuge es beschreibt, ist noch unklar. Sicher ist nur: Der bisherige Angeklagte war es nicht. Nach sechs Monaten in Untersuchungshaft haben die Richter ihn am Montag freigesprochen.

Ende Mai begann der Prozess wegen Totschlags. Dem nun Freigesprochenen wurde vorgeworfen, Anfang November 2016 auf einem Parkplatz an der Bundesstraße zwischen Hildesheim und Peine eine 40-jährige Prostituierte erwürgt zu haben. Die Polizei setzte eine 18-köpfige Mordkommission ein. Mitte Dezember verhaftete sie den mutmaßlichen Täter: einen 45-jährigen Ingenieur. Der gab zwar zu, die Prostituierte aufgesucht zu haben, bestritt die Tat in Untersuchungshaft aber immer wieder. Die Ermittler glaubten dem Mann nicht, da er sich bei der Befragung in Widersprüche verstrickte. Zudem wusste er Details, die aus ihrer Sicht eigentlich nur der Täter wissen konnte.

Dass sie den Falschen hatten, wurde den Ermittlerin erst Monate später klar, als sich ein neuer Zeuge meldete, anfangs anonym. Es war dessen Aussage, die schließlich zum Freispruch des Angeklagten führte. Er lenkte den Verdacht auf seinen 29-jährigen Bekannten und schilderte die oben beschrieben Szene. Offenbar hatte er lange mit sich gerungen, bevor er sich der Polizei anvertraute. Zu groß sei die Angst vor seinem gewalttätigen Kumpel gewesen. Entspricht seine Aussage der Wahrheit, könnte der Mann sogar noch eine weitere Tat begangenen haben: Einen Mord an einer Prostituierten aus Wolfsburg. "Beim zweiten Mal ging es leichter", soll er dem Zeugen anvertraut haben. Das berichtet der NDR.

Der 29-Jährige, der nun im Zentrum der Ermittlungen steht und bereits in Untersuchungshaft sitzt, bestreitet vor Gericht, die Frau umgebracht zu haben: "Zu dem Tatvorwurf kann ich nichts sagen, das war ich nicht, da habe ich nichts mit zu tun". Allerdings hatte ein Gutachten nachgewiesen, dass sich seine DNA unter den Fingernägeln der getöteten Prostituierten fand. Eine Funkzellenauswertung ergab außerdem, dass sich sein Handy zur Tatzeit am Tatort befand.

Staatsanwalt und Richter entschuldigen sich persönlich

Derweil kritisierte der Verteidiger des bisherigen Angeklagten die Arbeit der Polizei scharf. Er warf den Ermittlern absurdes Verhalten, Fehlinterpretationen und Verschleierung vor. Man habe immer zu Lasten seines Mandanten argumentiert.

Infolge der neuen Zeugenaussage hatte das Gericht den Haftbefehl gegen seinen Mandanten im Juni wieder aufgehoben und den Ingenieur auf freien Fuß gesetzt. Am Ende des Prozesses plädierte dann sogar die Staatsanwaltschaft auf Freispruch. Der Erste Staatsanwalt Wolfgang Scholz entschuldigte sich am Montag persönlich bei dem Angeklagten. "Es hat ein völlig Unschuldiger auf der Anklagebank gesessen".

Für den durchlebten Alptraum steht dem Ingenieur eine Entschädigung zu. Zum einen werde der entstandene Vermögensschaden ermittelt, etwa weil der Mann seinem Beruf nicht nachgehen konnte, sagte ein Gerichtssprecher. Laut Strafrechtsentschädigungsgesetz gibt es außerdem eine Entschädigung für jeden zu Unrecht hinter Gittern verbrachten Tag. Sie beträgt 25 Euro. Bei knapp 180 Tagen in Haft, sind das etwa 4500 Euro. Gegen den 29 Jahre alten neuen Beschuldigten wird es einen zweiten Prozess geben.

In seiner Urteilsbegründung gestand auch der Vorsitzende Richter Peter Peschka ein, dass dem Angeklagten Unrecht widerfahren sei. "Das ist in der Tat sehr tragisch." Ob der Angeklagte die Entschuldigung annimmt? Als er sich kurz vor der Urteilsverkündung äußerte, klang er ernüchtert: "Ich bin traurig, dass man mit der Wahrheit so umgeht".

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