Justiz und Psychtrie:Tiefseelforscher

Kannibalen, Serienmörder, Kinderschänder: Sie sind normale, unauffällige Leute, an denen Psychiater nichts Ungewöhnliches entdecken können - sieht man einmal von ihren Verbrechen ab. Deshalb stellt die Frage nach der Schuldfähigkeit unser Strafrechtssystem vor ein furchtbares Dilemma.

Von Hans Holzhaider

Es war eine jener Geschichten, die man "unbegreiflich" zu nennen pflegt. Ein 29-jähriger Mann und dessen 25-jährige Freundin hatten einen gemeinsamen Bekannten in eine Falle gelockt, mit Faustschlägen traktiert, ihn dann im Kofferraum ihres Autos eine ganze Nacht und den ganzen darauf folgenden Tag kreuz und quer durch die Gegend gekarrt.

Dreimal versuchte das Paar, einen Selbstmord seines Opfers zu inszenieren. Erst forderten die beiden den jungen Mann auf, einen Hochspannungsmast zu erklettern und die Leitung zu berühren. Als er sich weigerte, wollten sie ihn zwingen, sich selbst die Pulsadern aufzuschneiden, und als auch das misslang, sollte er von einer Autobahnbrücke springen.

Das scheiterte daran, dass zufällig ein Streifenwagen vorbeikam, aber die Polizisten merkten nichts und fuhren wieder weg. Schließlich, nach einer Irrfahrt von mehr als 24 Stunden, gab der Gefangene dem mörderischen Druck nach und sprang von einer Brücke in die Donau. Er war tot.

"So ist er eben"

Im Prozess vor dem Regensburger Landgericht hatte die Staatsanwaltschaft den Psychiater Dr. L. mit der Begutachtung der beiden Angeklagten beauftragt. Den 29-Jährigen bezeichnete Dr. L. als "gemütslos", als "taub und blind für zwischenmenschliche Empfindungen". Mit psychischer Krankheit habe das aber nichts zu tun. "Das ist seine Persönlichkeit", sagte der Sachverständige. "So ist er eben."

Es dränge sich hier der Begriff des "moralischen Schwachsinns" auf. Und auf die Frage des Gerichts, wie es denn zu erklären sei, dass ein Mensch so vollständig gefühllos geworden sei, streckte der Gutachter vollends die Waffen. "Verstehen kann das auch ein Psychiater nicht", sagte er. "Die Seele ist ein Abgrund. Da kann man nicht alles erklären."

Wer sich viel in Gerichtssälen herumtreibt, macht diese Feststellung immer wieder: dass ein Psychiater fast überhaupt nichts erklären kann. Sicher, irgend ein vordergründiges Motiv lässt sich immer finden.

Der eine ist eifersüchtig, weil er denkt, ein anderer habe ein Auge auf seine Freundin geworfen, der andere handelt aus "Habgier", wie etwa jener 52-jährige, gehbehinderte Sozialhilfeempfänger, der in einer Heidelberger Arztpraxis drei Menschen ermordete, um sich dann mit der Scheckkarte eines seiner Opfer 1000 Euro aus dem Geldautomaten zu ziehen - Weihnachten stand vor der Tür, da wollte er sich mal was Gutes gönnen.

Der 140 Kilo schwere Mann war mit Zug und städtischem Omnibus zum Tatort gefahren, Handschellen und ein Plastikseil in einer Tüte bei sich, hatte den Arzt, dessen Ehefrau und eine Praxishelferin an einen Heizkörper gefesselt und nacheinander mit dem Seil erdrosselt.

Der Sachverständige, Professor K., eine Kapazität in seinem Fach, zeigte sich weitgehend ratlos. Der Angeklagte, sagte Professor K., habe ihm den Eindruck erweckt, er könne gar nicht verstehen, warum sich alle Welt so über seine Tat aufrege. Anzeichen einer Persönlichkeitsstörung oder gar einer psychischen Krankheit habe er, der Sachverständige, nicht finden können.

Oder Horst D., den sie den "Würger von Regensburg" nannten. Der zum Zeitpunkt des Prozesses 57-jährige Maler hatte zwischen 1981 und 1993 fünf Frauen erwürgt - je älter er selbst wurde, desto älter waren auch seine Opfer. Das erste war 59, die beiden letzten 85 Jahre alt.

Horst D. ist verheiratet und hat zwei Kinder, er hat 21 Jahre lang im selben Betrieb zur vollen Zufriedenheit seines Chefs gearbeitet, er ist Mitglied im Fußballverein, im Schützenverein und im Kegelclub. Glaubt wirklich jemand, Horst D. hätte fünf Frauen erwürgt, um jeweils 20 oder 50 Mark mitgehen zu lassen, wie es der Staatsanwalt unterstellt?

In der Lage, ein normales Familien- und Berufsleben zu führen

Horst D. selbst wusste jedenfalls keine Erklärung. Er sagte Sätze wie: "Da bin ich wieder ausgerastet", oder "Da ist es dann wieder passiert." Der Psychiater Paul H. erkennt zwar einige "auffällige Persönlichkeitszüge", aber nichts, was Krankheitswert hätte.

Das könne man leicht daran ablesen, dass Horst D. über viele Jahre hinweg in der Lage gewesen sei, ein normales Familien- und Berufsleben zu führen. Bei einem Fall wie diesem, sagt der Sachverständige, "ist die Psychiatrie nicht in der Lage, eine Gesamterklärung zu liefern."

Genau so verhält es sich in allen diesen Fällen, in denen die Tat und das Bild des Täters so überhaupt nicht zueinander passen wollen. Armin Meiwes, der Kannibale von Rotenburg, oder die Herren Wirtz und Lewendel, die in Eschweiler zwei Kinder entführt und auf kaltblütigste Weise erwürgt haben - lauter ganz normale, unauffällige Leute, an denen die Psychiater partout nichts Ungewöhnliches entdecken können. Sieht man einmal davon ab, dass sie Menschen schlachten und essen oder Kinder und alte Frauen erwürgen.

Doch eben davon muss der Gerichtspsychiater absehen. Das augenfälligste Symptom der Krankheit, die Tat, hat ihn nicht zu interessieren. Er muss, wenn er sich über die Schuldfähigkeit eines Angeklagten äußert, so tun, als wisse er von der Tat überhaupt nichts.

Wäre es nämlich anders, wäre es ihm gestattet, die Tat selbst als die Manifestation einer psychischen Störung zu beschreiben - wie dies jeder normal denkende Mensch zu tun geneigt ist - , dann wäre unser gesamtes Strafrecht Makulatur. Dann dürfte sich die Justiz nicht mehr nur mit der isolierten Tat, nicht mehr ausschließlich mit dem Menschen in seiner Eigenschaft als Täter beschäftigen, dann müsste sie sich auf den Menschen in seiner Ganzheit einlassen.

Das kann sie nicht. Das will sie nicht. Sie weiß nicht, wie man das macht, und sie hat Angst vor den Konsequenzen, die das nach sich zöge.

Mit fünf Jahren von der Mutter vorsätzlich verlassen worden

Der Fall des Frauenmörders Horst D. eignet sich besonders gut, um diese systemimmanente Unwilligkeit und Unfähigkeit der Strafjustiz zu demonstrieren. D. war als Kind im Alter von fünf Jahren mit seiner Mutter auf der Flucht aus Schlesien. Am Bahnhof von Hof wurde er von seiner Mutter vorsätzlich verlassen. Sie hängte dem Kind ein Schild um den Hals, auf dem sein Name und sein Geburtsdatum stand, und ließ es einfach in der Menschenmenge stehen.

Man muss keine ausschweifende Phantasie haben, um sich die Gefühle eines fünfjährigen Jungen auszumalen, der, ohnehin in Angst und vielleicht sogar in Panik durch die Fluchtsituation, in einer fremden Stadt mutterseelenallein zurück gelassen wird.

Man kann sich vorstellen, dass dieses Erlebnis so schmerzhaft, so belastend ist, dass es von dem Kind völlig aus der Erinnerung verdrängt wird, weil es sonst nicht weiterleben könnte. Man kann sich auch im späteren Erwachsenenleben so eines Jungen Situationen vorstellen, in denen die verdrängte Erinnerung spontane, für ihn selbst unerklärliche Ausbrüche von Wut und Zerstörungswillen hervorruft.

Im Fall Horst D. beantragte die Verteidigung die Einholung eines psychoanalytischen Zusatzgutachtens. Mit den Methoden der Psychoanalyse, die sich im Gegensatz zur Psychiatrie mit den psychischen Mechanismen beim gesunden Menschen befasst, sei es möglich, die unbewussten, und damit für den Angeklagten auch nicht bewusst steuerbaren Antriebe und Motive für seine Taten aufzudecken, argumentierte der Verteidiger. Der Antrag wurde abgelehnt.

Bei "Psychoanalyse" stellen sich dem Strafrichter die Nackenhaare auf

Das kam nicht überraschend. Wenn der Strafrichter das Wort "Psychoanalyse" auch nur hört, dann stellen sich ihm schon die Nackenhaare auf. Das liegt durchaus in der juristischen Logik, der einzigen Logik, die ihn interessiert. Das Strafgesetzbuch lässt ihm keine andere Wahl.

Eine Schuldunfähigkeit oder eine eingeschränkte Schuldfähigkeit darf er nur feststellen, wenn der Angeklagte wegen einer "krankhaften seelischen Störung", einer "tiefgreifenden Bewusstseinsstörung" oder einer "anderen schweren seelischen Abartigkeit" nicht in der Lage war, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.

Diese drei Definitionen, in sich schon unbestimmt genug, beschreiben den Zustand eines im psychiatrischen Sinne kranken Menschen. Trifft keine dieser Definitionen zu, dann ist der Mensch im strafrechtlichen Sinn gesund, das heißt, er entspricht der Fiktion eines jederzeit aus eigenem Willen frei entscheidenden, für jede seiner Handlungen verantwortlichen Menschen.

Man kann diese Fiktion leicht ad absurdum führen. Warum, zum Beispiel, spreche ich Deutsch? Warum entscheide ich mich nicht frei und eigenverantwortlich, Polnisch, Japanisch oder Hottentottisch zu sprechen?

Eine sehr dumme Frage, nicht wahr? Natürlich spreche ich Deutsch, weil ich es längst vor meinem vierten Lebensjahr durch Nachahmung gelernt habe. Ich kann mich daran nicht erinnern, aber es muss trotzdem so gewesen sein. Wenn ich eine andere Sprache sprechen will, muss ich es sehr mühsam und langwierig neu erlernen.

Ich habe aber in meinen ersten Lebensjahren nicht nur meine Muttersprache gelernt, sondern eine Vielzahl von Reaktionen und Verhaltensweisen, die es mir bis heute ermöglichen, ein sozial angepasstes und weitgehend gewaltfreies Leben zu führen.

Manche davon habe ich im Lauf der Jahre bewusst eingeübt, andere aber habe ich, wie man so sagt, "mit der Muttermilch eingesogen", sie sind mir "in Fleisch und Blut übergegangen". Ich habe wohl auch, weil meine Kindheit frei von schweren Enttäuschungen und anderen Traumata verlief, ein gewisses Grundvertrauen erworben, das es mir möglich macht, feste Bindungen einzugehen und unvermeidbare Frustrationen zu ertragen.

Kann ich mir das als Verdienst anrechnen? Oder anders herum gefragt: Wenn andere Menschen andere Verhaltensweisen erlernt haben, wenn sie zum Beispiel gelernt haben, dass der Versuch einer persönlichen Bindung immer eine Enttäuschung zur Folge hat; dass man nichts freiwillig bekommt, sondern sich alles mit Gewalt nehmen muss; dass man jemandem, der einem auf die Nerven geht, am besten eine aufs Maul gibt - ist das diesen Menschen dann als Schuld anzurechnen?

Und falls nicht - wie könnte man mit ihnen verfahren, um sie eine andere soziale Sprache zu lehren und zu verhindern, dass sie anderen Menschen Schaden zufügen?

Wir behandeln Straftäter wie infizierte Personen

Wir behandeln Straftäter wie Personen, die mit einem sehr ansteckenden Virus infiziert sind. Wir sagen: Diese Leute sind sehr gefährlich, wir müssen sie isolieren. In zehn Jahren untersuchen wir sie noch einmal, ob sie immer noch ansteckend sind. Notfalls müssen wir sie lebenslang isolieren.

Für die Medizin gilt selbstverständlich, dass man sich darum bemüht, den Erreger zu identifizieren, dass man die Bedingungen erforscht, unter denen eine Ansteckung möglich ist, dass man eine gründliche Anamnese erhebt: Wie hat der Patient gelebt? Wie hat er sich ernährt? Ist er irgendwelchen gefährlichen Aktivitäten nachgegangen? Wo und wie hat er sich angesteckt?

Im Strafrecht findet das alles nicht statt. Der Gerichtssaal ist wie eine Ambulanz, aber anders als in der medizinischen Ambulanz wird hier die Diagnose nur auf Grund äußerlich sichtbarer Symptome erstellt. Das sichtbare Symptom ist die Tat.

Der Richter beschreibt die Tat wie der Arzt vielleicht eine Pestbeule. Er erkennt: höchst schädlich, höchst gefährlich. Aber er unternimmt nichts, um die Krankheitsursache zu ermitteln, die Infektionswege zu unterbinden, eventuell nach einem Impfstoff zu forschen. Er hat auch keinerlei wirkungsvolle Arznei in seinem Medizinschrank. Alles, was er tut, ist den Kranken aus dem Verkehr zu ziehen.

"Es gibt nur die fließende Ganzheit des Lebens"

"Das Gesetz umreißt mit scharfer Kontur strafbare Tatbestände, der Prozess richtet den eng umgrenzten Lichtkegel seines Scheinwerfers auf einzelne strafbare Handlungen - aber man darf, ohne sehr paradox zu werden, sagen: Es gibt keine einzelnen Handlungen, es gibt nur die beharrende Ganzheit eines Menschen, oder vielmehr: Es gibt nur die fließende Ganzheit seines Lebens."

Das sagte Gustav Radbruch, der große sozialdemokratische Jurist, der in der Weimarer Republik auch einmal kurze Zeit Justizminister war. Und er sagte auch: "Solange wir ,Täter' strafen, nicht Menschen behandeln - so lange es ein Strafrecht gibt, gibt es kein gerechtes Strafrecht." Radbruch schrieb diese Sätze im Jahr 1928. Das Strafrecht ist seitdem nicht gerechter geworden.

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