Süddeutsche Zeitung

Justizopfer Harry Wörz:Was nie hätte geschehen dürfen

  • Harry Wörz saß viereinhalb Jahre unschuldig im Gefängnis - wegen versuchten Totschlags an seiner Ex-Frau.
  • Nun will er Geld und Gerechtigkeit vom Land Baden-Württemberg.
  • Vor Gericht muss er eine quälende Vernehmung über sich ergehen lassen. Ob er Recht bekommt, ist offen.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Mehr als 70 Prozesstage hat Harry Wörz in den vergangenen 18 Jahren vor diversen Gerichten zugebracht. Eine Verurteilung zu elf Jahren Haft wegen versuchten Totschlags an seiner Ex-Frau, dann Wiederaufnahme, Freispruch - zu viel Justiz für ein Leben.

Und doch stand der Mann aus Birkenfeld bei Pforzheim an diesem Montag wieder vor Gericht, 49 Jahre ist er inzwischen alt, davon war er viereinhalb Jahre - genau: 1675 Tage - zu Unrecht im Gefängnis eingesperrt. Wörz will Geld und Gerechtigkeit, was in diesem Fall auf dasselbe hinausläuft.

Quälende Vernehmung

Rund 110 000 Euro fordert seine Anwältin Sandra Forkert-Hosser vom Land Baden-Württemberg, und zwar als Ausgleich für Verdienstausfall, außerdem für seine Möbel, die er vor dem Haftantritt weggegeben hat. Das Land hat ihm zwar bereits die gesetzliche Haftentschädigung von 25 Euro pro Tag gewährt, zudem rund 156 000 Euro für das weggefallene Einkommen während der Haft und in den sechs Monaten nach der Entlassung. Den weiteren Forderungen aber begegnet die Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe mit einer Knausrigkeit, wie sie sonst eher den schwäbischen Nachbarn nachgesagt wird.

Bei seiner Entlassung im November 2001 galt Wörz noch als verurteilter Totschläger, der Freispruch lag in weiter Ferne. Mit diesem Makel binnen sechs Monaten einen Job zu finden, war für den gelernten Bauzeichner kaum möglich. Er schlug sich mit diversen Jobs durch, die er ausnahmslos dank privater Kontakte fand.

Am Montag schilderte Wörz ausführlich, wie er sich vor dem Tag, an dem das Strafverfahren über ihn hereinbrach, auf Arbeitssuche als Bauzeichner begeben hatte. Es war eine quälende Vernehmung: Weil er, so sieht es das Gesetz vor, nachweisen muss, dass er Aussichten auf einen besser bezahlten Job gehabt hätte, musste der psychisch angeschlagene und inzwischen arbeitsunfähige Wörz tief in seinem Gedächtnis graben, bei welchen Betrieben er sich vor 20 Jahren vorgestellt hatte.

Und warum die Arbeitssuche als Zeichner fehlgeschlagen war, die ihm ein besseres Einkommen und damit heute einen höheren Entschädigungsanspruch verschafft hätte. Denn entscheidend ist eine hypothetische Arbeitsbiografie: Wie hätte sich seine Situation entwickelt, wenn nicht passiert wäre, was nie hätte geschehen dürfen?

Ob das Land einem Vergleich zustimmt, ist offen. In der Verwaltungsvorschrift heißt es, bei solchen Entschädigungen sei von "kleinlichen Beanstandungen" abzusehen.

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Quelle:
SZ vom 09.06.2015/fued
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