Justiz:"Ein Syrer wird nicht anders bewertet als ein Franzose"

Asylklagen im Verwaltungsgericht Sigmaringen

Im Verwaltungsgericht Sigmaringen liegen Prozess-Akten auf mehreren Stapeln.

(Foto: dpa)

Gegen den Hauptverdächtigen im Freiburger Vergewaltigungsfall lag ein Haftbefehl vor, aber der Mann war auf freiem Fuß. Wie kann das sein? Ein Richter erklärt die Hintergründe.

Interview von Nora Reinhardt 

Am 14. Oktober soll in Freiburg eine 18-Jährige von mindestens acht Männern vergewaltigt worden sein. Gegen den Hauptverdächtigen lag seit 10. Oktober ein Haftbefehl wegen Drogenhandels vor. Die Logik, die nun bemüht wird, lautet: Wäre der Haftbefehl sofort vollstreckt worden, hätte die Tat verhindert werden können. Eine Festnahme war geplant, allerdings erst für den 24. Oktober, wie sich im Nachhinein herausstellte. Ist eine Frist von zwei Wochen normal? Angemessen? Werden in Deutschland Haftbefehle vertrödelt? Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU) räumte ein, dass in dem Bundesland aktuell 19 809 nicht vollstreckte Haftbefehle vorliegen. Woran liegt das? Dr. Wolfgang Schorn, der Richter am Amtsgericht in Köln ist, über die Praxis der Haftbefehle in Deutschland.

SZ: Herr Schorn, bei dem Fall in Freiburg gab es einen Haftbefehl, der erst zwei Wochen später vollstreckt werden sollte. Thomas Strobl rechtfertigte diese zweiwöchige Lücke unter anderem mit "ermittlungstaktischen Gründen". Ist das nicht leichtsinnig, so lange zu warten?

Wolfgang Schorn: Grundsätzlich kann es sinnvoll sein, bei einem Drogendelikt abzuwarten, um dafür dann mehrere Personen des Netzwerks zu erwischen. Man darf auch nicht vergessen: Die Staatsanwälte können nicht in die Zukunft sehen. Es dürfte kaum vorhersehbar gewesen sein, dass ein Drogendealer ein paar Tage danach gemeinsam mit anderen Männern eine Frau vergewaltigen wird.

Der Innenminister Strobl sagte zudem, der Aufenthaltsort des Mannes sei nicht bekannt gewesen.

Ich habe keinen Einblick in diesen Fall, aber das ist in der Praxis ganz häufig das Problem bei Haftbefehlen. Oft kommt die Polizei mit der Fahndung nicht weiter - und die Person kann erst festgesetzt werden, wenn sie bei einem Grenzübertritt oder anderen Kontrollen, etwa anlässlich von Schwarzfahren erwischt wird. Bei der Festnahme ist es dann so, dass die Polizisten die Information erhalten, dass ein Haftbefehl gegen die Person vorliegt und der Verdächtige kommt dann direkt in Untersuchungshaft.

NUR für Interview Haftbefehl !!

Wolfgang Schorn, 39, Richter am Amtsgericht in Köln. An einem Amtsgericht einer Großstadt wie in Köln werden drei bis 15 Haftbefehle pro Tag erlassen. Schorn war während der Silvesterereignisse 2015/2016 in Köln im Dienst.

(Foto: Volker Kirchesch/Hockeyfreun.de)

Was braucht man, um überhaupt einen Haftbefehl erlassen zu dürfen?

Einen "dringenden Tatverdacht" und einen "Haftgrund". Der dringende Tatverdacht entsteht zum Beispiel durch eine Zeugenaussage, bei einer Vergewaltigung etwa durch einen DNA-Abgleich oder eben dadurch, dass man die Person auf frischer Tat ertappt. Der Haftgrund kann etwa sein, dass Wiederholungsgefahr oder Fluchtgefahr besteht. Aber die Verhältnismäßigkeit muss gewahrt werden.

Und wie sieht ein Haftbefehl aus?

Im Haftbefehl steht immer das abstrakte Vergehen - zum Beispiel ein Verstoß gegen Paragraph 242 des Strafgesetzbuches, Diebstahl - und der konkrete Vorwurf, was derjenige wann getan haben soll, zum Beispiel: : "Am 6. November 2018 um 15 Uhr soll Herr Meier im Geschäft ein Fahrrad im Wert von 2000 Euro gestohlen haben." Und der Haftgrund. Bei Haftsachen gibt es ein "Beschleunigungsgebot": Innerhalb von sechs Monaten soll die Hauptverhandlung in der Regel abgeschlossen sein. Ich mache in der Regel innerhalb von vier Wochen ab dem Eingang der Anklage einen Termin.

Wenn jemand schon einmal die Idee hatte, eine Tat zu begehen, dann besteht doch eigentlich immer Wiederholungsgefahr.

Im landläufigen Sinne ja, im juristischen Sinne nein. "Wiederholungsgefahr" heißt, dass man einen konkreten Anhaltspunkt haben muss, dass die Person vergleichbare Taten wiederholen wird. Zudem muss es - ich verkürze - eine schwerwiegende Tat sein, bei der bei einer Verurteilung eine Strafe von mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe zu erwarten ist. Bei einer Vergewaltigung ist es mitunter gar nicht so einfach, festzustellen, ob eine Wiederholungsgefahr besteht. Man könnte etwa ein Sachverständigengutachten einholen, um feststellen zu lassen, ob das Fehlverhalten im Charakter angelegt ist.

Und nach welchen Kriterien wird die Fluchtgefahr eingeschätzt?

Die Lebensumstände sind dafür ausschlaggebend. Es ist ein Unterschied in der Bewertung, ob ein Mensch am Ort der Tat wohnt, ein geregeltes Umfeld hat, verheiratet ist, Kinder und eine Arbeitsstelle hat, vielleicht eine Eigentumswohnung. Die Fluchtgefahr wird gering eingestuft. Bei einer Person, die hierher geflüchtet ist, in einem Übergangswohnheim lebt, keine Arbeit und keine feste soziale Bindungen hat, ist der Fluchtanreiz deutlich höher. Man muss aber differenzieren. Flüchtlinge ohne festen Wohnsitz haben zwar per se eine schlechtere Ausgangssituation, aber so werden alle Ausländer ohne festen Wohnsitz in Deutschland in Sachen Fluchtgefahr bewertet.

Ja?

Ja. Ich hatte selbst schon den Fall, in dem ein Spanier seinen Nebenbuhler erstochen hat und wieder zurückreisen wollte. Auch er hatte keine Bindung an Köln, keine Arbeit, keine sozialen Kontakte hier. Gegen ihn wurde Haftbefehl erlassen, da die Fluchtgefahr in solchen Fällen unermesslich hoch ist. Ausländer sind bei der Bewertung der Fluchtgefahr im Nachteil, aber innerhalb der Gruppe werden keine Unterschiede gemacht - ein Syrer wird nicht anders bewertet als ein Franzose oder ein Schweizer.

Und da sind Sie sich ganz sicher?

Erinnern Sie sich an Jörg Kachelmann? Er ist Schweizer und hatte keinen festen Wohnsitz in Deutschland, die Fluchtgefahr wurde daher bei ihm wahrscheinlich hoch eingestuft. Hätte er einen Wohnsitz in Deutschland gehabt, wäre die Fluchtgefahr möglicherweise anders bewertet worden und er wäre vielleicht nicht in Untersuchungshaft gekommen.

Am Montag wurde der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier in der Bild-Zeitung zitiert mit den Worten: "Der Staat setzt Recht nicht durch". Ist das auch Ihr Eindruck?

Ich finde die Formulierung nicht glücklich, weil sie nahelegt, der Rechtsstaat wolle Recht gar nicht durchsetzen. Meiner Ansicht nach werden hier zwei Dinge zu Unrecht vermengt: Die Schwierigkeit, Recht durchzusetzen, und der Wille, Recht durchzusetzen. Durch Papiers Zitat entsteht der Eindruck, der Rechtsstaat hätte sich aufgegeben. Das ist meiner Erfahrung nach überhaupt nicht der Fall. Es ist nur nicht immer so einfach.

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