Justiz:Hanf im Dschungel der Paragraphen

Ärzte sind aufgeschlossen, aber die Justiz bremst - das Beispiel einer Schmerzpatientin zeigt, wie Kranke in die kriminelle Ecke gedrängt werden.

Von Christina Berndt

Scheibe-Alsbach, im August - Wenn es Abend wird, steigt die Stimmung bei Familie Köhler. Dann nimmt die Mutter ihre Medizin. Zwanzig, dreißig Tropfen aus dem braunen Fläschchen reichen, und eine halbe Stunde später ist Ute Köhler ein bisschen aufgekratzt.

"Seitdem ich die Tropfen habe, bin ich wieder Mensch", sagt die 50-jährige Hausfrau. Vor vier Jahren noch, da hat die Blondine mit den lustigen Rehaugen und dem langen Pferdeschwanz oft im Bett gekniet vor Schmerzen. "Mein Mann wusste gar nicht, was er mit mir machen soll", erinnert sie sich.

Und damit man das auch wirklich versteht, nennt sie noch eine Zahl: 5000 Menschen in Deutschland nehmen sich wegen unerträglicher Schmerzen pro Jahr das Leben, sagt die Deutsche Schmerzliga. "Ich war nah dran", sagt Ute Köhler.

Inzwischen ist die gebürtige Sächsin fast zu fröhlich für eine Schmerzpatientin. Für eine, die mit 33 Jahren Gebärmutterhalskrebs bekam.

Und die man dann in der Universitätsklinik zu Jena bestrahlte. So stark, dass der Krebs zerstört wurde - und auch ein Teil ihrer inneren Organe.

Nach dem Strahlenangriff tat ihr der ganze Unterleib weh. Die Blase wollte sich 40-mal am Tag entleeren, auch wenn nur noch Blut kam. 14 Jahre lang ging das so, und kein Schmerzmittel half.

Daheim, im Dörfchen Scheibe-Alsbach mitten im Thüringer Wald, lag sie nur noch auf dem Sofa, sagt Ute Köhlers 20-jähriger Sohn Jens. "Wir wussten uns nicht mehr zu helfen. Und als sie vor viereinhalb Jahren wieder ins Krankenhaus ging, da dachten wir, jetzt kommt sie nicht mehr zurück."

Hasch vom Apotheker

Doch bei diesem letzten Mal wagte ein Schmerztherapeut in der Klinik im nahen Schleusingen einen ungewöhnlichen Schritt: Er versuchte es mit Cannabis, genauer gesagt mit dem reinen Wirkstoff der Cannabis-Pflanze, der Substanz Tetrahydrocannabinol, die in Deutschlands Apotheken seit 1998 auf Rezept ausgegeben werden darf.

Dronabinol heißt das flüssige Hasch vom Apotheker. "Mit einem Schnips ging's mir besser", erinnert sich Ute Köhler und strahlt unter ihrem blonden Pony. "90 Prozent meiner Schmerzen sind fort."

Jeder Abend ist seitdem berauschend im Hause Köhler, einem schieferverkleideten Einfamilienhaus, in dem fromme Sprüche nicht nur als Holztäfelchen an der Wand hängen, sondern sogar die Kaffeebecher zieren.

Hanf im Dschungel der Paragraphen

"Sie wird dann schon sehr fröhlich", sagt Jens, der als Kind alles andere als eine lebenslustige Mutter kannte. Ute Köhler beschreibt ihren abendlichen Zustand zurückhaltender: "Ich werde ein bisschen netter", sagt sie. "Und ich genieße die Natur stärker. Ich setze mich abends gerne auf die Terrasse." Die meisten Nebenwirkungen aber verschlafe sie.

Es könnte also eine Geschichte mit gutem Ausgang sein. Eine Geschichte vom sinnvollen Gebrauch einer berauschenden Pflanze, wie sie die Menschen seit mehr als 5000 Jahren kennen.

In Indien wurde Cannabis als ein Wundertrank besungen, der dem Menschen Gesundheit, ein langes Leben und göttliche Einsicht schenken konnte. Zu eben diesem Zweck hätten die Götter dem Menschen die Hanfpflanze gesandt.

Und die medizinische Wirkung von Cannabis haben die alten Chinesen schon vor 4700 Jahren in einem Lehrbuch über Botanik und Heilkunst beschrieben.

Tausende von Jahren später hat die Kraft der Hanfpflanze auch Ute Köhlers Schmerzen vertrieben. "Es wäre ein Happy End", sagt sie, "wenn nur das hier nicht wäre."

Krankenkasse will nicht mehr bezahlen

Und dabei schlägt sie mit einer Hand auf den dicken Aktenordner, der neben ihr auf der beigebraunen Couchgarnitur liegt. Die Krankenkasse nämlich will nicht mehr bezahlen.

Rund 600 Euro im Monat kostet der halb synthetisch hergestellte Wirkstoff der Cannabis-Pflanze. Und im Erstattungskatalog der meisten Krankenkassen ist er nicht vorgesehen, obwohl wissenschaftliche Studien die Wirksamkeit der Droge bei vielen Leiden inzwischen nachgewiesen haben.

Hanf im Dschungel der Paragraphen

600 Euro im Monat, die kann sich die Familie Köhler schwerlich leisten. Vors Sozialgericht ist Ute Köhler schon gezogen, und einen Aktenordner voller Briefe hat sie geschrieben - an die Bundesgesundheitsministerin, an die Kirche, an den Ministerpräsidenten in Erfurt. Alle wünschten ihr gute Gesundheit, aber niemand hat bisher etwas dafür getan.

Die echte Droge als letzte Hoffnung

Jetzt, sagt Ute Köhler, bleibe ihr nur eins: die echte Droge. Schließlich kann man Tetrahydrocannabinol statt in seiner hochreinen Version aus der Apotheke auch klassisch in Form von Haschisch oder Marihuana zu sich nehmen.

Das ist etwa zehnmal billiger. Nur: Es ist illegal. Mit einem mulmigen Gefühl im verstrahlten Bauch sitzt Ute Köhler deshalb seit einigen Tagen zwischen Blumentöpfen mit Hanfpflanzen, wenn sie sich abends auf ihrer Terrasse entspannt.

Haschisch zu kaufen, das kommt für die Frau, die noch nie in ihrem Leben Drogen genommen hat, die nicht raucht und fast nie Kaffee trinkt, nicht in Frage. "Ich wüsste nicht einmal, wer damit handelt. Da müsste ich noch meine Söhne zum Dealer schicken", sagt sie.

Dass Joints ihr vermutlich nicht helfen würden, weiß sie schon. Ute Köhler hat einmal versucht, Dronabinol zu inhalieren, wie es manche Patienten tun, statt Tropfen davon in Sesamöl einzunehmen. "Das hat bei mir nichts genützt."

Plätzchen backen

Es gibt auch schmackhaft klingende Rezepte, wie man Haschisch in Milch aufkocht oder mit Cornflakes und Kakao zu Choco-Crossies mixt. Aber vor heißer Milch ekelt sich Ute Köhler. Also müsste sie wohl Plätzchen backen.

"Manchmal", sagt die Frau, "habe ich Angst, dass die Polizei plötzlich vor der Tür steht. Die haben doch schon Kranke, die im Rollstuhl saßen, mit Handschellen aus der Wohnung rausgefahren."

Keine Frage, der Weg in die Apotheke wäre Ute Köhler lieber. Auch wenn die ungewöhnliche Frau mit ihrem hellblauen Polo-Shirt und den sportlichen Jeans in ihrem rustikalen Wohnzimmer ein wenig ungewöhnlich wirkt: Das Heim der Köhlers drängt sich nicht gerade auf als Hort für zugekiffte Revoluzzer.

Auf Neuerungen scheinen die 600 Seelen von Scheibe-Alsbach allesamt eher weniger Wert zu legen. Wer die Köhlers sucht, muss die ganze Straße ablaufen.

Die Hausnummern sind hier wie Kraut und Rüben gewachsen. 62 liegt gleich neben 92, 31 neben 54. Nicht einmal nach geraden und ungeraden Zahlen sind sie sortiert. Aber eine neue Hausnummer, das wäre hier im Thüringer Wald der Innovationen schon zu viel.

Dass sich Ute Köhler trotzdem mit allen anlegt - mit der AOK, mit dem Ministerpräsidenten und sogar mit der Polizei - das sei der "Mut der Verzweiflung", sagt sie. "Kein Tetrahydrocannabinol mehr zu bekommen, wäre für mich der Albtraum. Wenn ich's heute Abend nicht mehr habe, sind die Schmerzen wieder da."

Vergangene Woche hat die Frau deshalb sogar Streit mit der Staatsanwaltschaft angefangen. Mit ihrem Mann, ihrem Sohn Jens und einem ihrer Hanfpflänzchen ist sie nach Jena zum Oberlandesgericht gefahren, wo sie eine Stunde lang unbehelligt ihren Blumentopf über die Flure trug. "Wir wollten nicht darauf warten, dass die Polizei eines Tages kommt", erklärt ihr Rechtsanwalt Robert Wenzel aus Hamburg. "Deshalb haben wir einen Antrag auf Straffreiheit gestellt. Frau Köhler soll ihre Pflanzen auf Grund ihres persönlichen Notstands behalten dürfen."

Kein Ausnahmefall

Darauf hat das Gericht überraschend schnell reagiert: Nur einen Tag später hat es den Antrag abgelehnt. Ein Ausnahmefall liege nicht vor, hieß es.

Nun will Ute Köhler vors Bundesverfassungsgericht ziehen, damit alle Kranken straffrei Cannabis verwenden können. Ihr persönlich haben acht medizinische Gutachten, davon eins der Universitätsklinik in Jena, längst bestätigt, dass Dronabinol ihr hilft und alle anderen Therapien versagt haben.

Genützt hat ihr das bisher nichts. "Es ist ein Unding", sagt Rechtsanwalt Wenzel, "dass in Deutschland Strafgerichte darüber entscheiden, welche Medizin ein Kranker nehmen darf."

Selbst in den Drogen-phobischen USA ist man da offener. Schon 1985 hat die sonst hyperkritische Arzneimittelbehörde FDA Dronabinol zur Behandlung von Krebskranken zugelassen, die infolge einer Chemotherapie unter schwerer Übelkeit leiden.

Seit 1991 darf die Substanz Aids-Patienten verschrieben werden, weil sie den Appetit anregt und so verhindert, dass die Kranken immer weiter ausmergeln. Zehn US-Bundesstaaten und Kanada erlauben Patienten sogar den Selbstanbau von Cannabis. Und in den Niederlanden gibt es Gras in der Apotheke - fast genauso preiswert wie in den Coffee Shops.

Hierzulande hatte die rot-grüne Bundesregierung 2002 noch in ihrer Koalitionsvereinbarung versprochen, dass "die Verschreibungsmöglichkeiten von Cannabisarzneimitteln in wissenschaftlich anerkannten Fällen weiter entwickelt" würden. Doch daran will sich in Berlin inzwischen niemand mehr so recht erinnern.

Derweil könnten immer mehr Kranke von Cannabis profitieren. Mittlerweile nutzen auch Menschen mit spastischen Lähmungen, Bewegungsstörungen und krampfartigem Asthma die Droge.

Sie hilft darüber hinaus, den Augeninnendruck beim Glaukom zu senken, den Darm von Morbus-Crohn-Kranken zu beruhigen und die Schmerzen bei Multipler Sklerose zu lindern; sogar epileptische Anfälle sollen Hasch und Marihuana verhindern können.

Jedes Medikament kann eine Droge sein, und fast jede Droge ist ein Medikament. Nicht umsonst steht "drug" im Englischen nicht nur für Rauschgift, sondern ganz allgemein für Arzneimittel.

In Deutschland deutet nur noch der Name der guten alten Drogerie auf einen unverkrampften Umgang mit berauschenden Substanzen hin.

Mittlerweile trauen sich nicht einmal mehr die Grünen an das Thema heran, dabei sind in der Medizin viel härtere Drogen gang und gäbe. Morphium zum Beispiel wird ohne Murren von den Krankenkassen erstattet.

Und die Suchtgefahr ist bei Tetrahydrocannabinol zweifellos erheblich geringer: "In der medizinisch wirksamen Dosis, die etwa dem Drittel eines Joints entspricht, ist Cannabis relativ unproblematisch", betont Franjo Grotenhermen, der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin.

Auch nach zwölf Monaten seien bei Patienten keine Hinweise auf Missbrauch oder Persönlichkeitsveränderungen gefunden worden. Die schwerwiegendsten Nebenwirkungen bei der medizinischen Verwendung von Hanf, konstatiert Grotenhermen trocken, entstünden durch den rechtlichem Status.

"Immer high ist nicht leicht"

"Ich bin überhaupt nicht abhängig", sagt Ute Köhler. "Ich konnte sogar meine Dosis senken. Am Anfang hatte mir mein Arzt dreimal täglich 50 Tropfen verschrieben. Ich wollte aber lieber nur abends welche nehmen. Immer berauscht sein, das ist schließlich auch nichts Leichtes."

20 bis 30 Tropfen nimmt sie nun noch - einmal abends nach zehn Uhr. Und oft habe sie wie bei anderen Arzneimitteln auch einen Widerwillen dagegen. "Da kann man ja wohl nicht von Sucht sprechen."

Die Wahrnehmung, sagt Ute Köhler, das bisschen Aufgekratztsein und die Empfänglichkeit für Reize, die seien unter Alkoholeinfluss viel stärker als mit Dronabinol. "Da möcht ich wissen, wo das schlimm ist. Ich hab weiß Gott bei Medikamenten schon ganz andere Nebenwirkungen erlebt."

Was aber würde sie sagen, wenn einer ihrer beiden Söhne Gefallen an den Keksen mit dem besonderen Etwas findet? "Die wissen, das ist der Mutter ihre Medizin", meint sie. "Vier Jahre lang haben sich Jens und Torsten nicht an meinem Dronabinol vergriffen. Da hab ich auch mit Plätzchen keine Angst."

Wenn ihre Söhne erst 13 oder 14 wären, wär das was anderes, räumt die Mutter ein. Schließlich verträgt das Gehirn von Jugendlichen Haschisch erheblich schlechter als das von Erwachsenen. "Für eine generelle Freigabe von Drogen bin ich deshalb nicht", betont Ute Köhler.

"Die Jugend, die knallt sich ja alles rein. Die geht nicht diszipliniert damit um. Schließlich sollte man auch kein Antibiotikum nehmen, wenn man keins braucht. Genauso gehört Cannabis nur in die Hände eines Arztes." Kranke aber in die kriminelle Ecke zu drängen, das sei ein unhaltbarer Zustand. "Unser Haus ist ein solides Haus", sagt sie.

"Hier raucht niemand, und hier trinkt niemand. Ich habe noch nicht einmal einen Punkt in Flensburg. Aber meine Schmerzen, die richten sich nicht nach Paragraphen." Ob sie mit einer Strafanzeige rechnen muss, weiß Ute Köhler noch nicht. Eines aber weiß sie sicher: "Nicht ich muss mich schämen, die müssen sich schämen. Und wenn ich eine Geldbuße bekomme, zahl ich nicht. Dann brumm ich das ab."

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