Justiz:Freiheit nach 21 Jahren und 30 Minuten

Mit aller Kraft versuchte die Justiz, Helmut Sieber selbst nach Ablauf der Sicherungsverwahrung im Gefängnis zu behalten. Doch dann hatte sie es plötzlich sehr eilig.

Hans Holzhaider

Plötzlich konnte es gar nicht schnell genug gehen. Am 5. März, nachmittags um halb vier, rasselte der Schlüssel in der Tür zur Zelle Nummer 76 in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Straubing, der Abteilungsbeamte kam herein und sagte, "Sieber, Sie kommen raus. In zehn Minuten müssen Sie die Anstalt verlassen." Helmut Sieber, 63, konnte gerade noch seine beiden Wellensittiche einfangen und hastig ein paar Akten in einen Karton packen, dann ging es schon im Schlepptau des Beamten ab in die Kleiderkammer.

Foto: Schellnegger

"Total überfordert": Helmut Sieber entdeckt nun lauter Dinge, die ihm fremd waren, wie Handys, Euro, aneinandergekettete Einkaufswagen.

(Foto: Foto: Schellnegger)

Er bekam seine Zivilsachen und zog sich um. Zeit, sich von seinen Zellennachbarn zu verabschieden, blieb ihm nicht. Es dauerte keine halbe Stunde, da stand er draußen vor dem Gefängnistor auf der Äußeren Passauer Straße. Nach 21 Jahren in der Zelle, ohne Vorwarnung, ohne auch nur einen einzigen Ausgang oder Hafturlaub, um sich auf die Freiheit vorzubereiten.

Bis zu diesem Tag hatte die bayerische Justiz überhaupt keine Eile gezeigt im Fall des Helmut Sieber, ja, man kann ohne Übertreibung sagen: Sie hatte alles in ihrer Macht Stehende unternommen, um eine Entlassung zu verhindern, auch noch, nachdem die SZ über den Fall im Oktober 2008 berichtet hatte. Allseits gibt es viel Verständnis für Richter und Staatsanwälte, die sich nach Kräften bemühen, die Öffentlichkeit vor Gewaltverbrechern und Sexualtätern zu schützen, von denen eine unberechenbare Gefahr ausgeht.

Nur - Helmut Sieber ist weder ein Mörder noch ein Kinderschänder; er hat niemanden getötet oder schwer verletzt, er hat keine Frau vergewaltigt und kein Kind sexuell missbraucht. Er wurde im Dezember 1987 wegen einer Serie von Einbruchsdiebstählen verhaftet und am 2. Februar 1989 zu neun Jahren Haft verurteilt. Weil er mehrfach einschlägig vorbestraft war, verhängte das Gericht Sicherungsverwahrung. Auch nach der vollständigen Verbüßung seiner Strafe im Dezember 1996 kam er also nicht frei.

Spätestens im Dezember 2006 aber hätte er entlassen werden müssen, denn nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist die Sicherungsverwahrung bei gewaltfreien Eigentumsdelikten auf maximal zehn Jahre begrenzt. Aber Sieber blieb im Gefängnis. Zwar erklärte die Strafvollstreckungskammer Regensburg im Dezember 2007 aufgrund der glasklaren Rechtslage die Sicherungsverwahrung für erledigt, aber auf eine Beschwerde der Staatsanwaltschaft entschied das Oberlandesgericht (OLG) Nürnberg, Sieber dürfe trotzdem nicht entlassen werden.

Und das, obwohl der Münchner Gerichtspsychiater Norbert Nedopil in einem Gutachten festgestellt hatte, dass von Helmut Sieber auch in Freiheit mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Gewalttaten zu erwarten seien. Er hatte ja auch früher bei seinen Einbrüchen nie Gewalt gegen Menschen angewendet - er war in Gaststätten eingebrochen und hatte Automaten geknackt oder Zigaretten en gros aus Supermärkten gestohlen. Nie hatte er eine Waffe bei sich, nie hat er jemanden bedroht oder eingeschüchtert.

Kein erhöhtes Risiko

Siebers Anwalt Hartmut Wächtler focht die Entscheidung des Nürnberger Oberlandesgerichts beim Bundesverfassungsgericht an und hatte Erfolg - zumindest teilweise. Das Bundesverfassungsgericht verfügte zwar nicht die Entlassung Siebers, aber es hob die angefochtene Entscheidung auf und verwies die Sache zurück an das Oberlandesgericht Nürnberg. Aber Sieber kam noch immer nicht frei.

Das OLG gab noch einmal ein Gutachten in Auftrag, diesmal beim Chef der forensischen Psychiatrie an der Berliner Charité, Hans Ludwig Kröber. Er möge sich, hieß es in dem Gutachtenauftrag, insbesondere zu der Möglichkeit äußern, dass Helmut Sieber, sollte er nach seiner Freilassung wieder Einbrüche begehen und sollte er dabei von irgendjemandem auf frischer Tat überrascht werden, nicht vielleicht doch gewalttätig werden könnte, um sich einer neuerlichen Festnahme zu entziehen. Kröber freilich ließ sich von diesem fiktiven Szenario nicht beirren und bestätigte, was sein Münchner Kollege Nedopil schon festgestellt hatte: Von Helmut Sieber geht kein erhöhtes Risiko von Gewalttaten aus.

Die Eilentlassung

Am 4. März ging das Gutachten in Nürnberg ein, und am 5. März wurde Helmut Sieber in Straubing vor die Tür gesetzt. Über Jahre hinweg waren alle Anträge des Gefangenen auf Ausgang oder Urlaub abgewiesen worden, jetzt blieb nicht einmal mehr Zeit, rechtzeitig seinen Anwalt zu verständigen, so schnell musste es gehen. Der Nürnberger Justizsprecher Andreas Quentin schildert das als einen Ablauf, bei dem die Justiz nicht den geringsten Ermessensspielraum gehabt habe.

Der 2. Strafsenat des OLG Nürnberg habe das Gutachten pflichtgemäß der Staatsanwaltschaft übermittelt; die Staatsanwaltschaft habe festgestellt, dass ihre Beschwerde gegen die Beendigung der Sicherungsverwahrung unter diesen Umständen keine Aussicht auf Erfolg mehr habe und habe diese Beschwerde deshalb unverzüglich zurückgezogen - "ein zwingender Automatismus", sagt Quentin. Dadurch sei der Beschluss der Regensburger Strafvollstreckungskammer zur Beendigung der Sicherungsverwahrung rechtskräftig geworden mit der Folge, dass Helmut Sieber unverzüglich zu entlassen war: "Jede Verzögerung hätte objektiv den Vorwurf der Freiheitsberaubung begründet." Matthias Konopka, der Leiter der JVA Straubing, fühlt sich sehr unwohl beim Gedanken an die Umstände der Entlassung Siebers: "Das war gegen alle Regularien", sagt er. "Wir sind sehr unglücklich, aber ich konnte es nicht beeinflussen."

So stand Helmut Sieber also an diesem nasskalten Nachmittag vor der Pforte der Justizvollzugsanstalt, mit 400 Euro Entlassungsgeld, einem Karton voll Akten und seinem Fernseher unter dem Arm. Zum Glück hatte ihm ein Zellennachbar die Adresse seiner Frau in Straubing gegeben, bei der konnte Sieber für eine Nacht unterkommen, und am nächsten Tag nahm sich die Tochter des Zellennachbarn einen freien Tag und fuhr Helmut Sieber nach München.

Die Welt ist nicht mehr die, die er kannte

In der Wohnung eines Freundes im Westend fand er vorläufig Unterschlupf, drei steile Treppen hoch, das ist nicht leicht für ihn, denn seit Monaten leidet er unter schwerer Atemnot; der Gefängnisarzt in Straubing hatte noch keine Zeit gefunden für eine gründliche Untersuchung. Der Schock der Entlassung hat ein Übriges getan, Helmut Sieber kann keine zehn Meter gehen, ohne nach Luft zu ringen. Wenn er niemanden hätte, der ihm bei der Odyssee durch die Ämter hilft, um sich anzumelden, um Arbeitslosengeld zu beantragen, um einen Arztbesuch zu organisieren - er wäre rettungslos verloren.

Die Welt ist nicht mehr die, die er kannte. Er hat zum ersten Mal einen Euro in der Hand gehabt. "Ich hab' zuerst gedacht, das wären Gulden", sagt er. Überall sieht er Leute mit einem kleinen Telefon am Ohr herumlaufen - das gab's damals noch nicht. Er war im Supermarkt und musste feststellen, dass die Einkaufswagen aneinandergekettet sind. "Ich hab versucht, bei den anderen zuzuschauen, wie sie's machen", erzählt er, "aber das ging immer zu schnell." Dass man einen U-Bahn-Fahrschein entwerten muss, bevor man einsteigt, hat ihm keiner gesagt. "Wenns mich erwischt hätten", sagt er, "ich hätt' nix bezahlt. Da hätt' ich gesagt: Das schickens der Justiz."

Trotz allem hat Helmut Sieber eine gute Chance, wieder Fuß zu fassen in der Freiheit. Er hat einen Freund, der ihn schon seit Jahren besucht hat in der Haft und der sich jetzt um ihn kümmern wird. Der hat eigens seinen Skiurlaub in Frankreich abgebrochen, als er hörte, dass Sieber entlassen wurde. Er hat schon vor langer Zeit eine kleine Wohnung angemietet, in der Erwartung, dass Helmut Sieber bald freikommen würde. Bald wird Sieber dort einziehen können. "Ich selber", sagt er, "wär' total überfordert. Wenn du nicht ein wirklich starkes Umfeld hast, hast du keine Chance."

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