Justiz - Düsseldorf:Mit Künstlicher Intelligenz Selbstmorde in Haft verhindern

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Düsseldorf (dpa/lnw) - Künstliche Intelligenz (KI) soll künftig bei der Video-Überwachung in nordrhein-westfälischen Haftanstalten helfen, Selbstmordversuche früher zu erkennen und zu verhindern. NRW-Justizminister Peter Biesenbach (CDU) stellte am Dienstag in Düsseldorf ein Forschungsprojekt vor, das seinen Angaben zufolge bundesweit einmalig ist.

Ein Chemnitzer Entwicklungsdienstleister, der sich auf Personenerkennung spezialisiert hat, soll ein Computerprogramm entwickeln, das suizidale Handlungsmuster frühzeitig erkennt und meldet. Dafür müsse das System etliche Zuordnungen lernen, erläuterte der promovierte Physiker Karsten Schwalbe, der die dazu nötigen mathematischen Operationen mit tausenden variablen Parametern in dem sächsischen Unternehmen austüftelt.

Beispiel: Messer, Schere, Seil, Feuerzeug. Das System soll solche Gegenstände in Hafträumen detektieren, weil es "gelernt" hat, dass sie Werkzeuge zum Selbstmord sein könnten. "Wir versuchen, das verzweigte neuronale Netz des menschlichen Gehirns mathematisch nachzubilden", erklärte Schwalbe.

Dazu gehöre, nicht nur Objekte, sondern auch Verhalten oder etwa bestimmte Emotionen an Gesichtsmerkmalen zu erkennen. Wenn alles gut läuft, soll das nach einem Projektjahr so aussehen: In einzelnen Rechenschritten wertet das Programm die Bilder einer Videokamera im Haftraum aus. Es erkennt zum Beispiel eine Schlinge als "kritisches Objekt", einen Kopf, bemisst die Entfernung zum Fenster und stuft "das Suizidpotenzial des Insassen" ein.

Ist es hoch, soll ein Bild aus der Zelle mit einem Alarm in das Überwachungszentrum der Justizvollzugsanstalt (JVA) übertragen werden. "Nur dann", betonte Biesenbach. Wenn das System sich als sicher erweise, solle es die derzeit äußerst belastende permanente Video-Überwachung und die 15-minütigen persönlichen Kontrollen besonders suizidgefährdeter Gefangener ersetzen.

Der frühere Topmanager Thomas Middelhoff hatte die 15-minütigen Kontrollen Tag und Nacht vor einigen Jahren dafür verantwortlich gemacht, dass er nicht mehr habe schlafen können und deshalb in der Haft schwer erkrankt sei. Doch der Staat müsse das Leben der ihm anvertrauten Häftlinge schützen, rechtfertigte Biesenbach die Schutzmaßnahmen.

"Der Entzug der Freiheit ist hart", stellte er fest. Dies führe bei manchen zu Kurzschlussreaktionen. Bei einem Selbstmordversuch tickt für die Retter die Uhr: "Man braucht etwa sechs Minuten, um sich in einer Zelle umzubringen."

In NRW sei die Zahl der Selbsttötungen in den 36 NRW-Haftanstalten zuletzt rückläufig gewesen. Im vergangenen Jahr hätten sich elf der insgesamt rund 16 000 Gefangenen umgebracht, 2017 seien es 13 gewesen (2016: 19). In diesem Jahr gelang bereits neun Insassen ein Selbstmord - trotz aller Sicherheitsvorkehrungen, zu denen auch sogenannte "Schlichtzellen" gehören mit einfachem, im Boden verankertem Mobiliar ohne Spiegel und andere potenziell riskante Gegenstände.

Justizministerialrätin Caroline Schröttchen kennt die Praxis: "Die meisten bringen sich nicht zu Beginn ihrer Haft um, sondern eher im zweiten Halbjahr." NRW habe deshalb die Zahl der Untersuchungen auf Suizidgefahr im ersten Haftjahr verdreifacht.

Jüngst sei eine rätselhafte neue Tendenz zu beobachten: Vor allem Verzweifelte mit eigentlich kurzen Haftstrafen hätten sich in diesem Jahr selbst getötet. "Sogar eine Woche vor der Entlassung", berichtete Biesenbach. In keinem Fall sei es zu einem erfolgreichen Suizid" in einem besonders gesicherten Haftraum gekommen.

Auch mit Künstlicher Intelligenz seien nicht alle Selbsttötungen hinter Gittern auszuschließen, räumte Biesenbach ein. Er sei aber überzeugt: "Wir werden viele verhindern können."

Das 160 000 Euro teure Forschungsprojekt wird zunächst in einem Versuchsraum mit Studenten in Chemnitz erprobt und anschließend in der JVA Düsseldorf im Realbetrieb. Nicht jeder der fast 19 000 Haftplätze in NRW werde künftig Video-Überwachung mit KI haben, sagte Biesenbach. "Der Aufwand, um alle zu überwachen, ist nicht erforderlich, aber wir werden die Technik künftig überall dort einsetzen, wo sie nötig ist."

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