Junge aus Jugendherberge entführt:"Ein großer Mann mit weißen Schuhen"

Im Münsterland wurde ein Junge aus einer Jugendherberge entführt. Der Fall weckt Erinnerungen - es könnte die Tat eines Serienverbrechers sein.

R. Wiegand

Wenn wahr sein sollte, was Ermittler in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen zumindest nicht ausschließen, dann hat ein zehnjähriger Junge aus Osterode am vergangenen Wochenende verdammt viel Glück gehabt. Der Münsteraner Staatsanwalt Wolfgang Schweer geht davon aus, dass das Kind von einem Unbekannten nachts aus einer Jugendherberge entführt und in einem nahen Park gezwungen wurde, sich halb zu entkleiden. Mehr geschah nicht - der Täter ließ sein Opfer laufen, ohne sich an ihm zu vergehen.

Junge aus Jugendherberge entführt: Der entführte Junge hatte offenbar viel Glück.

Der entführte Junge hatte offenbar viel Glück.

(Foto: Foto: dpa)

Die Tat erinnert die Ermittler dennoch sofort an den Fall Dennis, der im September 2001 aus einem Schullandheim entführt und getötet worden war. "Der Fall in Rheine interessiert uns sehr", sagt Jürgen Menzel, Sprecher der Polizeidirektion Verden/Osterholz, bei der die Soko "Dennis" angesiedelt ist. "Die Tatbegehung weist Parallelen auf", sagt auch Wolfgang Schweer aus Münster. Inzwischen haben die Beamten beider Regionen ihre Informationen ausgetauscht.

Die Hermann-Rosenstengel-Jugendherberge liegt direkt am Stadtpark von Rheine. Der zweigeschossige Backsteinbau soll von Herbst an renoviert werden, er bekommt eine neue Eingangshalle und moderne Tagungsräume. Nachts sei die Haustür abgeschlossen, sagt Staatsanwalt Schweer, "wie der Täter ins Haus gekommen ist, kann ich nicht sagen". Einbruchspuren gebe es nicht, die Ermittler hätten aber auch keinen Anlass, an den Schilderungen des Opfers zu zweifeln. "Ein so komplexes Geschehen kann man sich nicht ausdenken", sagt Staatsanwalt Schweer.

Kinder haben nichts bemerkt

Demnach ist ein unbekannter Mann mitten in der Nacht zu Samstag in den mit fünf Jungen belegten Schlafraum gegangen. Die Kinder aus dem Harz nahmen an einem Fußballturnier teil, die Eltern schliefen in anderen Zimmern. Ein anderes Kind im Raum wachte auf, hielt den Fremden aber für einen Betreuer. Der Eindringling trug den Zehnjährigen mit nach draußen in den Park, wo er sich halb entkleiden musste.

Das Opfer erinnerte sich später an einen "großen Mann mit weißen Schuhen und dicken Schnürbändern", sagt Staatsanwalt Schweer. Ob der Mann gestört wurde oder warum sonst es zu keinen weiteren Übergriffen kam, wissen die Ermittler nicht. "Auf jeden Fall sagte er dann: 'Du kannst gehen.'" Der Junge lief zurück zur Jugendherberge. Im Park fand man später seine Schlafanzughose.

Die Sonderkommission Dennis im niedersächsischen Verden interessiert sich für jedes Detail. Die Beamten wollen klären, ob die Tat in Rheine zu einer Serie von Verbrechen gehören könnte, der auch der neunjährige Dennis zum Opfer fiel. Die Suche nach dessen Mörder hat nie aufgehört seit jenem Tag, an dem Dennis' Leiche gefunden wurde. "Wir hoffen immer auf neue Hinweise", sagt Polizeisprecher Menzel.

In der Nacht zum 5. September 2001 verschwand Dennis Klein aus einem Schullandheim in Wulsbüttel im Landkreis Cuxhaven. Der Viertklässler aus Osterholz-Scharmbeck lag morgens einfach nicht mehr in seinem Bett. Die Polizei suchte zunächst verhalten, dann öffentlich nach dem blonden Jungen. Die Tage vergingen. 200 Polizeibeamte, 40 Diensthunde, 80 Soldaten, Hunderte Jäger, die Wasserschutzpolizei und Hubschrauberpiloten beteiligten sich an der Suche nach Dennis - vergeblich. Am Nachmittag des 19. September 2001 entdeckte ein Pilzsammler zwischen Kirchtimke und Herpstedt, auf dem niedersächsischen Land, die Leiche von Dennis Klein. Das Kind war aus dem Schullandheim entführt und erstickt worden.

Eine Reihe von Taten

Insgesamt gibt es 43 Taten im Nordwesten Deutschlands, die die Polizei mit dem Mörder von Dennis in Verbindung bringt. Die Beamten unterteilen die Verbrechen grob in drei Serien: eine Schullandheimserie mit zwölf Taten zwischen 1992 und 1999; eine Reihe von Missbrauchsdelikten, bei denen der Täter in Bremer Einfamilienhäuser eindrang (1994/95); und fünf ähnliche Fälle, die sich zwischen 1992 und 1995 in Zeltlagern zutrugen. Neben dem Fall Dennis gehören drei weitere Morde an Jungen zu den Tatblöcken.

Auch wenn die aktuelle Tat von Rheine nichts mit dem Fall Dennis zu tun haben sollte, "es bringt wieder Aufmerksamkeit", erklärt Soko-Sprecher Jürgen Menzel. Immer wieder bereiten die Fahnder alte Spuren mit neuen Kriminaltechniken erneut auf, gehen Hinweisen nach, die auch Jahre später noch eintreffen, schärfen ständig das Täterprofil. Gesucht wird im Fall Dennis ein großer Mann zwischen 30 und 50 Jahren, der sich im Norden auskennt, Hochdeutsch spricht, mobil ist und mit Kindern umgehen kann. Bei seinen Taten war er maskiert, trug teilweise Lederkleidung, einen Mundschutz oder eine Wollmütze mit Löchern. Und vielleicht muss man jetzt hinzufügen: weiße Schuhe mit dicken Schnürbändern.

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