Süddeutsche Zeitung

Julius Paul Reuter:This Strippenzieher

Die größte Nachrichtenagentur der Welt ist zum Spekulationsobjekt geworden. Ein Blick zurück auf ihren deutschen Gründer.

Christoph Rosol

Was los ist, wollen alle immer wissen. Der Handel mit Nachrichten ist daher ein ziemlich zeitgeistresistentes Geschäft - sollte man meinen. Doch vor der Logik des Kapitalismus ist niemand mehr geschützt, nicht einmal eine so altehrwürdige Institution wie die Nachrichtenagentur Reuters. Sie wird, sollten die Kartellbehörden nicht in letzter Minute dazwischenfahren, demnächst von der kanadischen Mediengruppe Thomson übernommen. Möglicherweise würde Reuters damit wieder zu dem, was der Gründer der Agentur einst im Sinn hatte: eine Schnittstelle von Wirtschaftsdaten, Notierungen und Quotierungen.

Israel Beer Josaphat, später in der deutsch-lutheranischen Kapelle von Whitechapel als Paul Julius Reuter getauft, wurde 1816 in Kassel geboren. Nach dem Tod seines Vaters, des Rabbiners Samuel Levi Josaphat, zog der dreizehnjährige Josaphat zu einem Onkel nach Göttingen, der dort eine Geldwechselstube betrieb - wegen der damaligen Zersplitterung Deutschlands in Hunderte Währungseinheiten ein einträgliches Geschäft.

Josaphat ging in die Bankkommis-Lehre und wurde so mit dem Funktionieren der Geldmärkte vertraut. Gleichzeitig machte er Bekanntschaft mit einem Medium, das seine Zukunft bestimmen sollte: dem Telegraphen. Damals forschte der Leiter der Göttinger Sternwarte Carl Friedrich Gauß zusammen mit dem Physiker Wilhelm Weber nach Möglichkeiten der Telekommunikation mittels elektrischem Draht. Zwei Leitungen - eine für hin und eine für zurück - verbanden im Jahr 1833 Gauß' Sternwarte mit Webers Physikalischem Kabinett. Der Gedanke an die Kabel, die da hoch über seinem Kopf baumelten, sollte Reuter zeit seines Lebens nicht mehr loslassen. Und er die Kabel nicht.

Josaphat wurde eine Woche vor der Hochzeit zu Reuter

Nach mehreren kleinen Anstellungen in Hannover und Gotha ging der junge Bankkaufmann 1840 nach Berlin. Dort lernte er Clementine Magnus, die Tochter eines preußischen Regierungsbeamten, kennen. 1845 ließen sich die beiden in London trauen; offenbar wollte Josaphat sich und seiner Familie eine neue Existenz in der Welthauptstadt des Handels und der Finanz aufbauen. Eine Woche vor der Hochzeit hatte er den lutheranischen Glauben angenommen und nannte sich fortan Paul Julius Reuter.

Im darauffolgenden Sommer allerdings war das Paar schon wieder zurück in Berlin. Mit einer Finanzspritze seines Schwiegervaters stieg Reuter dort 1847 beim Verlagshaus des Buchhändlers Stargardt ein. Kurz vor und während der Märzrevolution von 1848 versuchten sich Reuter & Stargardt auch an einer Reihe politischer Pamphlete. Der Ton, den Reuter dabei anschlug, war radikal-liberal, aber nicht unbedingt revolutionär. Reuter war eben Kaufmann und nicht ein politischer Denker. Auch deshalb ist fraglich, ob seine Flucht nach Paris im Jahre 1848 politisch motiviert war. Die Familie Stargardt jedenfalls hielt ihm noch lange vor, sich mit den 6000 Talern Einnahmen der Leipziger Buchmesse schlicht davongestohlen zu haben.

In Paris landete Reuter zunächst als Übersetzer bei der Nachrichtenagentur Havas. Mit seinem lithographischen Pressedienst hatte Charles Havas in den 1830er Jahren die Nachricht zu einer Ware gemacht. Die "Agence Havas" sammelte Informationen, insbesondere aus dem Ausland, organisierte sie und verkaufte sie an französische Ministerialbeamte, Zeitungsredaktionen und Bankiers. Jeden Nachmittag kamen Brieftauben mit den Morgenpreisen der Londoner Börse in der Pariser Agentur an. Für den Informationsfluss mit dem Kontinent bediente sich Havas der entstehenden Telegraphenlinien, wofür er eine exklusive Konzession vom französischen Staat erhielt.

"Folge dem Kabel!"

All das machte einen nachhaltigen Eindruck auf den ehrgeizigen Reuter, der im Frühjahr 1849 Havas verließ, um in der Rue Jean-Jacques Rousseau seinen eigenen Pressedienst aufzumachen. Doch die Abonnenten blieben aus; bereits im Sommer wurde die komplette Einrichtung gepfändet. Reuter entschied sich daraufhin, woanders sein Glück zu versuchen. Berlin schied aus; da hatte bereits Bernhard Wolff, ein ehemaliger Kollege von Reuter bei Havas, ein Telegraphenbüro aufgemacht. Wollte man aber Eilnachrichten von Berlin nach Paris schicken, stockte die Übertragung zwischen Aachen und Brüssel, den jeweiligen Enden der deutschen und französischen Telegraphenstrecken. Ende 1849 eröffnete Reuter deshalb eine kleine Agentur in Aachen und begründete somit zugleich seine Maxime "Folge dem Kabel!".

Freilich nicht dem Kabel allein. Eine Vereinbarung mit dem Taubenzüchter Heinrich Geller sicherte Reuter die Bereitstellung von 40 geflügelten Kurieren, die es ihm erlaubten, um Stunden schneller als der Postzug zu sein.

Im März 1850 erschien im Brüsseler L'Indépendence Belge eine kurze Notiz. Ein neues Korrespondenzbüro in Aachen versprach die Lieferung aller wichtigen Börsenpreise und Nachrichten für die belgischen, französischen und britischen Finanzhäuser wie für die Presse. Der belgische Autor Louis Hyman erinnerte sich später an Reuters Besuche in der Redaktion des L'Indépendence: "Ein Deutscher, der auf den ersten Blick unscheinbar wirkte, ungebildet, aber scharfsinnig, endlos palavernd über Tauben und Telegraphen. Ich kann mich nicht erinnern, dass er jemals etwas Bedeutendes zu sagen gehabt hätte."

Kein Wunder: Es waren eben nicht die Inhalte der Nachrichten, sondern die technischen und finanziellen Aspekte der Nachrichtenübermittlung, die Reuter interessierten. In seinen Plänen kartierte er sogar eine Taubenfluglinie von Aachen quer über den Ärmelkanal. Am 27. April 1850 offerierte Reuters "Institut zur Beförderung Telegraphischer Depeschen" den Londoner Rothschilds exklusiven Service: "Wir können London die heutigen Preise der Berliner Börse und die gestrigen der Wiener Börse zwischen 10 und 11 Uhr morgens liefern." Die Finanziers von Krieg und Frieden gingen jedoch auf das Angebot nicht ein.

Als sich im Jahr darauf die elektrische Lücke zwischen Aachen und Brüssel schloss, machte Reuter seine deutsche Agentur dicht und bestieg zusammen mit seiner Frau eine Fähre in Oostende. Und diesmal glückte der Versuch, in London Fuß zu fassen. Noch im Oktober desselben Jahres eröffnete Reuter ein winziges Telegraphenbüro in den Arkaden der Royal Exchange - gleich neben der Bank of England und dem Telegraphenamt gelegen. So war er bestens für den gerade einsetzenden Kabelverkehr durch den Kanal positioniert.

Die Verbindung der Dörfer Calais und Dover per Unterwasserkabel machte zum ersten Mal einen tagesaktuell reagierenden europäischen Finanzmarkt möglich. Die kontinentalen Börsen wie Paris, Berlin, Wien und Athen konnten nun rasch auf Entwicklungen in London, dem Epizentrum der Finanzwelt, reagieren; Makler und Geschäftsleute waren täglich über die europäischen Eröffnungs- und Schlusskurse informiert. Tatsächlich markiert die Einweihung des Seekabels den Beginn der Arbitrage-Geschäfte, also des nahezu simultanen Handelns an verschiedenen Märkten unter Ausnutzung der lokalen Preisunterschiede. Der Telegraph war damit zum Taktgeber im internationalen Wirtschaftskonzert geworden. Als dessen Dirigent wollte der "Director of Electric Telegraph"" Julius Reuter brillieren.

Der erste Dienst, den Reuter anbot, war die Übermittlung der Londoner und Pariser Börsenpreise, zweimal täglich und in jede Richtung. Hinzu kam der Empfang der Notierungen aus Brüssel, Amsterdam und Wien. Nichts davon war exklusiv. Doch Reuter mit dem ihm eigenen Enthusiasmus behauptete, er sei als Telegraphen-Experte der Konkurrenz im Nachrichtenhandel überlegen. So gelang es ihm bald, die ersten Abonnenten zu gewinnen.

Erst danach sicherte sich Reuter die ersten echten Exklusivrechte: die an den Neuigkeiten aus dem Fernen Osten, die mit den Dampfschiffen der österreichischen Lloyd im Hafen von Triest eintrafen. Das erlaubte es ihm, die Zeitungen von Manchester und Liverpool, die beiden Zentren der weltweiten Textilproduktion, schnellstens mit den neuesten Rohstoffkursen zu versorgen. Bemerkenswerte Wirtschaftsnachrichten wurden nebenbei mitgeliefert - so zum Beispiel im Mai 1853 die sensationelle Meldung: "Japan wird sich binnen eines Jahres öffnen. Freihäfen werden bereits ausgesucht."

Die Börsennotierungen und Wirtschaftsnews begann Reuter allmählich auch mit politischen und unterhaltsamen Nachrichten zu verknüpfen. Dazu baute er ein eigenes Netz von Korrespondenten auf. Erfolg auf diesem Gebiet blieb jedoch zunächst aus. Die Londoner Presse, allen voran die Times, zeigte sich unbeeindruckt von Reuters Angebot einer blitzschnellen "telegraphischen Zusammenfassung der allerneuesten Nachrichten aus dem Ausland". Erst mit der Verlegung eines neuen Seekabels, eines neuen Fangarms für Reuters Abonenntenakquise, änderte sich diese Haltung.

16 Stunden, die zum PR-Gau wurden

Reuter traf penible Vorbereitungen, um die neue Verbindung optimal auszunutzen. In einem Brief an den Geschäftsführer der Times offerierte er eine tägliche Routine-Übermittlung der amerikanischen Geldmarktpreise an. Diesmal lehnte das Zentralorgan der britischen Weltmacht nicht ab. Aus dem Deal wurde trotzdem nichts; denn der transatlantische Kabelverkehr geriet zum kompletten Desaster. Die Übertragung der 103 feierlichen Eröffnungsworte von Queen Victoria an den amerikanischen Präsidenten Buchanan dauerte ganze 16 Stunden. Ein paar Wochen nach diesem PR-GAU verstummt das Kabel ganz, um erst im Sommer 1866 seinen Dienst zuverlässig aufzunehmen. Schon drei Jahre zuvor hatte Reuter allerdings ein eigenes Unterwasserkabel zwischen Irland und Wales legen lassen: 1866 folgte eines durch die Nordsee nach Norderney.

Zu dieser Zeit war Reuters Agentur bereits zu "Reuters" geworden, die Eintragung als Kapitalgesellschaft erfolgte im Februar 1865. Das Wichtigste aber: Auch in der politischen Presselandschaft hatte sich Reuters als Institution etabliert. Im Januar 1859 konnte die Agentur das Resumee einer morgendlichen Rede des Königs von Sardinien bereits kurz nach Mittag der Times für deren Nachmittagsausgabe übermitteln. Der von König Viktor Emanuel artikulierte "Aufschrei der Wut" des italienischen Volkes stellte sich als höchst wichtiges Moment im italienischen Befreiungskampf heraus; die Besatzungsmacht Österreich mobilisierte sofort ihre Truppen. Reuters Nachrichtentruppe begann, Geschichte zu telegraphieren.

Julius Reuter, der Mann mit den auffälligen Koteletten, wurde zum Londoner Stadtgespräch. Als er vom Premierminister Lord Palmerston persönlich der Königin Victoria vorgestellt wurde, lieferte Karl Marx in einem Brief an Friedrich Engels die Hintergründe: "Russland ist der Österreichisch-Deutschen Telegraphen-Union beigetreten", und um die britische Presse am russischen Markt teilhaben zu lassen, "hat Pam nun der Queen Reuter vorgestellt." Zehn Jahre später sollte der Schwager der Queen, Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha, Reuter zum Baron machen.

Fit gemacht für den eigenen Verkauf

Vor allem dank eines ständig ausgebauten Korrespondentennetzes liefen bald die allermeisten Nachrichten aus Amerika, Indien, China, Australien oder dem Kap zuerst über Reuters Apparate. Die Agentur war zum Medium schlechthin geworden. All ihre Londoner Büros waren untereinander mit Telegraphenkabeln verbunden. "Der Fußgänger, welcher die Fleet Street und den Strand hinunterläuft, wird hoch über seinem Kopf etwas bemerken, was man als das politische Nervensystem der Metropole bezeichnen kann", bemerkte ein Korrespondent des Birmingham Journal.

Als Reuter 1899 starb, hinterließ er dem kommenden Jahrhundert ein Nachrichtenimperium.

In den 1960er Jahren begann die Reuters Company sich wieder verstärkt auf Kommunikationsnetzwerke für die Finanzmärkte zu spezialisieren. Statt in Telegraphenkabel investierte die Firma zunehmend in die Infrastruktur vollelektronischer Tradingsysteme.

Man kann sagen, Reuters habe sich auf diese Weise für seinen Verkauf fitgemacht. Noch zeigt das Logo der Firma eine Erdkugel, auf deren Tag- und Nachthälfte die globalen Informationsknotenpunkte leuchten. Doch bald schon könnte stattdessen der aufblitzende Stern der Thomson Corporation über dieser Reuterswelt prangen.

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Quelle:
SZ vom 9.6.2007
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