Julius Paul Reuter:This Strippenzieher

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Die größte Nachrichtenagentur der Welt ist zum Spekulationsobjekt geworden. Ein Blick zurück auf ihren deutschen Gründer.

Christoph Rosol

Was los ist, wollen alle immer wissen. Der Handel mit Nachrichten ist daher ein ziemlich zeitgeistresistentes Geschäft - sollte man meinen. Doch vor der Logik des Kapitalismus ist niemand mehr geschützt, nicht einmal eine so altehrwürdige Institution wie die Nachrichtenagentur Reuters. Sie wird, sollten die Kartellbehörden nicht in letzter Minute dazwischenfahren, demnächst von der kanadischen Mediengruppe Thomson übernommen. Möglicherweise würde Reuters damit wieder zu dem, was der Gründer der Agentur einst im Sinn hatte: eine Schnittstelle von Wirtschaftsdaten, Notierungen und Quotierungen.

Julius Paul Reuter auf einem Gemälde von 1869

Julius Paul Reuter auf einem Gemälde von 1869

(Foto: Foto: Reuters)

Israel Beer Josaphat, später in der deutsch-lutheranischen Kapelle von Whitechapel als Paul Julius Reuter getauft, wurde 1816 in Kassel geboren. Nach dem Tod seines Vaters, des Rabbiners Samuel Levi Josaphat, zog der dreizehnjährige Josaphat zu einem Onkel nach Göttingen, der dort eine Geldwechselstube betrieb - wegen der damaligen Zersplitterung Deutschlands in Hunderte Währungseinheiten ein einträgliches Geschäft.

Josaphat ging in die Bankkommis-Lehre und wurde so mit dem Funktionieren der Geldmärkte vertraut. Gleichzeitig machte er Bekanntschaft mit einem Medium, das seine Zukunft bestimmen sollte: dem Telegraphen. Damals forschte der Leiter der Göttinger Sternwarte Carl Friedrich Gauß zusammen mit dem Physiker Wilhelm Weber nach Möglichkeiten der Telekommunikation mittels elektrischem Draht. Zwei Leitungen - eine für hin und eine für zurück - verbanden im Jahr 1833 Gauß' Sternwarte mit Webers Physikalischem Kabinett. Der Gedanke an die Kabel, die da hoch über seinem Kopf baumelten, sollte Reuter zeit seines Lebens nicht mehr loslassen. Und er die Kabel nicht.

Josaphat wurde eine Woche vor der Hochzeit zu Reuter

Nach mehreren kleinen Anstellungen in Hannover und Gotha ging der junge Bankkaufmann 1840 nach Berlin. Dort lernte er Clementine Magnus, die Tochter eines preußischen Regierungsbeamten, kennen. 1845 ließen sich die beiden in London trauen; offenbar wollte Josaphat sich und seiner Familie eine neue Existenz in der Welthauptstadt des Handels und der Finanz aufbauen. Eine Woche vor der Hochzeit hatte er den lutheranischen Glauben angenommen und nannte sich fortan Paul Julius Reuter.

Im darauffolgenden Sommer allerdings war das Paar schon wieder zurück in Berlin. Mit einer Finanzspritze seines Schwiegervaters stieg Reuter dort 1847 beim Verlagshaus des Buchhändlers Stargardt ein. Kurz vor und während der Märzrevolution von 1848 versuchten sich Reuter & Stargardt auch an einer Reihe politischer Pamphlete. Der Ton, den Reuter dabei anschlug, war radikal-liberal, aber nicht unbedingt revolutionär. Reuter war eben Kaufmann und nicht ein politischer Denker. Auch deshalb ist fraglich, ob seine Flucht nach Paris im Jahre 1848 politisch motiviert war. Die Familie Stargardt jedenfalls hielt ihm noch lange vor, sich mit den 6000 Talern Einnahmen der Leipziger Buchmesse schlicht davongestohlen zu haben.

In Paris landete Reuter zunächst als Übersetzer bei der Nachrichtenagentur Havas. Mit seinem lithographischen Pressedienst hatte Charles Havas in den 1830er Jahren die Nachricht zu einer Ware gemacht. Die "Agence Havas" sammelte Informationen, insbesondere aus dem Ausland, organisierte sie und verkaufte sie an französische Ministerialbeamte, Zeitungsredaktionen und Bankiers. Jeden Nachmittag kamen Brieftauben mit den Morgenpreisen der Londoner Börse in der Pariser Agentur an. Für den Informationsfluss mit dem Kontinent bediente sich Havas der entstehenden Telegraphenlinien, wofür er eine exklusive Konzession vom französischen Staat erhielt.

"Folge dem Kabel!"

All das machte einen nachhaltigen Eindruck auf den ehrgeizigen Reuter, der im Frühjahr 1849 Havas verließ, um in der Rue Jean-Jacques Rousseau seinen eigenen Pressedienst aufzumachen. Doch die Abonnenten blieben aus; bereits im Sommer wurde die komplette Einrichtung gepfändet. Reuter entschied sich daraufhin, woanders sein Glück zu versuchen. Berlin schied aus; da hatte bereits Bernhard Wolff, ein ehemaliger Kollege von Reuter bei Havas, ein Telegraphenbüro aufgemacht. Wollte man aber Eilnachrichten von Berlin nach Paris schicken, stockte die Übertragung zwischen Aachen und Brüssel, den jeweiligen Enden der deutschen und französischen Telegraphenstrecken. Ende 1849 eröffnete Reuter deshalb eine kleine Agentur in Aachen und begründete somit zugleich seine Maxime "Folge dem Kabel!".

Freilich nicht dem Kabel allein. Eine Vereinbarung mit dem Taubenzüchter Heinrich Geller sicherte Reuter die Bereitstellung von 40 geflügelten Kurieren, die es ihm erlaubten, um Stunden schneller als der Postzug zu sein.

Im März 1850 erschien im Brüsseler L'Indépendence Belge eine kurze Notiz. Ein neues Korrespondenzbüro in Aachen versprach die Lieferung aller wichtigen Börsenpreise und Nachrichten für die belgischen, französischen und britischen Finanzhäuser wie für die Presse. Der belgische Autor Louis Hyman erinnerte sich später an Reuters Besuche in der Redaktion des L'Indépendence: "Ein Deutscher, der auf den ersten Blick unscheinbar wirkte, ungebildet, aber scharfsinnig, endlos palavernd über Tauben und Telegraphen. Ich kann mich nicht erinnern, dass er jemals etwas Bedeutendes zu sagen gehabt hätte."

Kein Wunder: Es waren eben nicht die Inhalte der Nachrichten, sondern die technischen und finanziellen Aspekte der Nachrichtenübermittlung, die Reuter interessierten. In seinen Plänen kartierte er sogar eine Taubenfluglinie von Aachen quer über den Ärmelkanal. Am 27. April 1850 offerierte Reuters "Institut zur Beförderung Telegraphischer Depeschen" den Londoner Rothschilds exklusiven Service: "Wir können London die heutigen Preise der Berliner Börse und die gestrigen der Wiener Börse zwischen 10 und 11 Uhr morgens liefern." Die Finanziers von Krieg und Frieden gingen jedoch auf das Angebot nicht ein.

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